Zeit des Erwachens

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Die langen Vorhänge vor den hohen, geöffneten Fenstern bewegten sich geisterhaft im Wind, der den Duft von frisch geschnittenem Jasmin und Rosen in einer Vase am Fensterbrett im gesamten Raum verteilte. Die Wände und das wenige Mobiliar darin waren in Weiß gehalten, nur der dunkle Steinboden hob sich ab. Von der hohen Decke hing ein pompöser Kronleuchter, dessen Kerzenwachs mittlerweile an herabhängende Stalaktiten erinnerte.

Ein Regal mit verschiedensten Märchenbüchern und Theaterstücken, aber auch einigen Stofftieren, sowie ein großer Spiegel zierte eine Wand nahe des großen Himmelbetts, dessen schwere Stoffbahnen geschlossen waren. Aus einer kleinen, geöffneten Box drang eine wunderschöne Melodie, zu der eine Ballerina tanzte.

Nur das leise Rascheln des Stoffs unterbrach die sonstige Stille, die herrschte, und eine schlanke Hand schob ihn zur Seite; nackte Füße berührten den kühlen Steinboden, als die Frau sich erhob und sich langsam umsah. Träumte sie noch? Dieser Ort wirkte so vertraut, als wäre sie Zuhause, und doch fühlte es sich seltsam anders an. Lautlos ging sie am Spiegel vorbei, ohne zu bemerken, dass sich ihr Spiegelbild verändert hatte, und steuerte auf die Flügeltür zu.

Das weiße Kleid, das sie trug, bedeckte ihre nackten Schultern nicht und besaß eine lange Schleppe aus edler Spitze; die Tür öffnete sich von selbst, als sie ihre Hand danach ausstreckte, und gab einen sandsteinfarbenen Korridor frei, den sie langsamen Schrittes entlang ging. Sie war sich sicher, dass sie diesen Weg noch nie zuvor gegangen war, und dennoch schritt sie zielsicher voran, bis sie das Tor erreichte, nach dem sie offenbar auf der Suche gewesen war, und stellte überrascht fest, dass ihr Herz vor Aufregung schneller schlug. Sie hielt davor inne.

Warum ist alles so vertraut, dachte sie, und doch so fremd?

Das Tor begann sich laut knarrend zu öffnen, und der anfängliche Spalt erlaubte der jungen Frau nur einen kurzen Blick auf einen Thron zu erhaschen, und plötzlich überkamen sie die Erinnerungen an eine Zeit, die schon Dekaden zurückzuliegen schienen: eine Reise in ein unbekanntes Reich, und dessen Gefahren zu überwinden, um ihren kleinen Bruder aus den Klauen eines bösen Königs zu retten, dem sie hier die Stirn geboten hatte. Aber alles hatte sich verändert, und nichts war, wie es schien. Das Tor schwang nun zur Gänze auf, und das Mädchen, Sarah, betrat den Thronsaal, nur um im nächsten Augenblick ein ohrenbetäubendes Brüllen zu hören.

„SA-WAH! SA-WAH! Guuut." Ein riesiges Wesen mit rotem Zottelfell, spitzen Hörnern auf dem Kopf, kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu, doch ein Fuchs, der auf einem Hund ritt, stellte sich ihm in den Weg. „Schon gut, mein Lieber, wir wollen Mylady nicht erschrecken nach allem, was sie durchmachen musste, nicht wahr?", fragte er mit heller Stimme und schenkte Sarah sein freudestrahlendstes Lächeln.
„Ludo! Sir Didymus!" Sarah schlug die Hände vors Gesicht, konnte ihre Freudentränen nicht länger unterdrücken, stürmte schließlich auf sie zu; sie drückte den Fuchs mit dem Dreispitz auf dem Kopf so fest an sich, dass er leise grunzte, als sie ihn wieder los ließ und es gerade mal schaffte, Ludos haarigen Bauch zu umarmen. „Ah, Mylady, wie freundlich von Euch", hörte sie Sir Didymus verlegen quieken, und lachte, weil Ludos Fell sie kitzelte. „Sa-wah. Guuut?"

Ludo bückte sich, soweit er konnte, und sein freundliches Gesicht musterte Sarah gründlich. „Ja, mir geht es gut, Ludo", sagte sie lachend, tätschelte seine Wange, „aber wo ist-?"
„Ich ... äh, bin hier, Sarah." Sie wandte sich um und erblickte den Zwerg mit der roten Mütze, der verlegen von einem Fuß auf den anderen trat, die Hände in die Taschen seiner Hose gesteckt, und es offenbar nicht wagte, Sarah ins Gesicht zu sehen.

„Hoggle!" Sie ignorierte seine Schüchternheit, packte ihn und drückte ihn an sich, hörte ihn dabei wie üblich leise Murren und Grummeln, aber wusste, dass er sich ebenso sehr freute wie sie. „Ja, schon gut, schon gut!" Er befreite sich aus Sarahs Umarmung, die ihn damit genauso triezen wollte und ihren Spaß dabei hatte.
„Ich dachte, ich würde euch nie wieder sehen", gestand Sarah, kniete sich hin, um Ambrosius zu kraulen. „Ich bin so froh, dass ihr hier seid. Aber – was ist geschehen?"

I will be your slaveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt