Die Handyuhr zeigte zwei Minuten später als zuvor, jegliche Apps wie Facebook, Instagram oder Twitter schienen wie leergefegt und meine Schlaflosigkeit dafür umso fitter. Ich wälzte mich von rechts nach links, vom Bauch auf den Rücken und hoffte nur, dass Oli seinen Arm nicht um mich werfen würde. Ich war schon aufgestanden und hatte an meiner Hausarbeit geschrieben, das Dokument geschlossen, es wieder geöffnet, Textpassagen verbessert und neue Informationen aus Büchern und dem Internet rausgesucht. Nichts machte mich jedoch so müde, dass selbst meine Gedanken übertönt wurden. Gedanken, die sich seit Stunden in meinem Kopf befanden und die mir fast den Verstand raubten.
Da war Basti, da war die Zeitung, da war Sarah, da war diese Überschrift, da war mein Herz, da waren meine Gefühle und für ein paar Stunden war da Oli, der mir unbewusst dabei half, all das zu verdrängen. Aber jetzt war es Nacht und jetzt musste ich schlafen und dieser Fakt raubte mir fast den Verstand. Ich hatte eine warme Milch getrunken, wie mein Vater sie mir früher immer gemacht hatte, ich hatte mir eine halbe Stunde später einen Tee aufgesetzt, wie es ihn immer bei meiner Oma gab und trotzdem saß ich wach hier rum. Zwischenzeitlich überlegte ich joggen zu gehen, verwarf den Gedanken daran jedoch sofort wieder. Ich wollte niemandem begegnen und gerade heute war sicherlich einer der Nächte, in denen man etlichen Menschen begegnete, die gerade aus Clubs oder Kneipen kamen.
Seufzend schälte ich mich zum gefühlten hunderten Mal aus meiner Bettdecke und tapste mit dem großen Hemd von Oli an meinem Oberkörper durch mein Schlafzimmer. Ich war froh, dass wir bei mir waren, in meinen eigenen vier Wänden. Dass ich überall herum wuseln konnte, wo ich nur wollte und dass ich jegliche Beschäftigungen finden konnte, wenn ich nur wollte. Auch wenn es mir nichts brachte, weil ich mittlerweile jegliche Beschäftigung durch hatte.
Ich durchquerte den Flur, warf einen Blick in das dunkle Wohnzimmer und ging weiter Richtung Küche. Mein Herz fühlte sich so unglaublich schwer an und für einen Moment fragte ich mich, warum ich Oli nicht einfach geweckt hatte. Er war immer gut darin mich abzulenken und meine Gedanken auszuschalten. Doch ich spürte, dass ich das in diesem Moment nicht brauchte. Ich brauchte irgendetwas anderes, das ich selbst nicht benennen konnte.
Leise zog ich den Kühlschrank auf, nahm eine angebrochene Flasche Rotwein vom Abendessen heraus und setzte mich samt Glas auf einen der Küchenstühle. Es war zum Verrückt-werden. Ich wollte das alles nicht mehr denken, ich wollte an das alles nicht mehr denken. Es war mittlerweile über drei Monate her und eigentlich hätte alles längst verblasst sein müssen. Ich dürfte sein Gesicht nicht mehr so intensiv und gut sichtbar vor mir sehen, seine Stimme dürfte nicht mehr so präsent in meinem Ohr sein und die Gefühle, die ich empfunden hatte, als er mich berührt hatte, dürfte ich nicht mehr auf meiner Haut spüren. Aber ich tat das alles noch, als sei es erst gewesen. Ich hatte so oft das Gefühl, dass er noch so präsent in meinem Leben war, wie kaum ein anderer Mensch. Manchmal dachte ich mir, dass ich mich zu wenig mit ihm auseinandersetzte. Dass ich damals nicht so hätte gehen dürfen, sondern dass ich ihm noch einmal die Chance für eine Erklärung hätte geben müssen.
Mein Blick wanderte durch die Küche, während ich an meinem Glas nippte und der rote Wein meine trockene Kehle hinunter rann. Ich suchte mit meinen Augen nach irgendetwas, das mir Beschäftigung geben konnte, blieb an meiner Pinnwand hängen und suchte sie nach irgendetwas ab. Aber ich fand nichts. Ich sah nur Notizen, Kinokarten, Post-its von Oli, die er mir morgens auf den Küchentisch gelegt hatte, Karten vom Lieferservice und.. den Schnipsel aus der Fernsehzeitung von Thomas' Couchtisch. Eine Gänsehaut legte sich auf meinen Körper, als mich meine Beine wie von allein zur Pinnwand trugen und ich den Schnipsel mit zurück an den Tisch nahm.
Thomas' Handschrift war typisch männlich. Total unordentlich, unsauber und fast schon zu undeutlich, um es richtig entziffern zu können. Ich strich leicht mit meinen Fingern über die Zahlenfolge und fühlte mich binnen weniger Sekunden zurückversetzt nach Brasilien. In den Moment, in dem er mir damals seine Nummer in mein Handy eingetippt hatte. Wie er mich angelächelt und gesagt hatte, ich solle mich bei ihm melden, sobald ich bei meinem Vater in der Küche fertig war. Das war damals ein Moment, an dem ich mich ein Stück in ihn verliebt hatte. Sein Lächeln war so ehrlich und wertvoll und die Tatsache, dass er das Vertrauen in mir hatte, dass er mir sogar seine Handynummer gab, machte mich so glücklich. Ich fühlte mich damals, als wäre ich dem Ganzen ein Schritt näher.
Heute dachte ich mir, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn er die Nummer einfach für sich behalten hätte. Nein, eigentlich dachte ich das nicht. Ich war mittlerweile so weit, dass ich nichts von dem bereute, was damals passiert war. Das alles hatte seinen Grund. Ich hatte gelernt, die Reißleine zu ziehen und zu sagen, wenn es vorbei war. Ich hatte gelernt auf mein eigenes Herz zu achten. Wenn wir so weitergemacht hätten – wer weiß, wie viel schlimmer ich jetzt dastehen würde.
Die Zahlen auf dem Schnipsel starrten mich von Zeit zu Zeit immer mehr an. Ich hatte das Gefühl, als würden sie mich anspringen und danach direkt in meinem Handy landen. Ich hatte das Gefühl, dass sie mich anschrien und verlangten, sie endlich zu wählen. Vielleicht war es auch das richtige. Vielleicht sollte ich mich bei Basti melden und fragen, ob er Zeit hatte, um sich mit mir zu treffen. Vielleicht brauchte ich diese Erklärung von ihm, um mit allem abzuschließen – ich war schließlich nicht umsonst so außer mir gewesen, als ich am Vortag die Bild-Zeitung vor mir liegen hatte. Außerdem wollte ich nicht der Grund dafür sein, dass er sich von Sarah getrennt hatte. Er sollte sich nicht unnötig von ihr trennen. Schließlich gab es für Basti und mich kein Zurück mehr. Ich wollte nicht, dass er das alles für Uns aufgab. Das Uns gab es nämlich nicht mehr.
Seufzend griff ich nach meinem Handy, das ich auf dem Küchentisch liegen gelassen hatte, damit ich mich nicht erneut durch überflüssiges Aktualisieren von irgendwelchen sozialen Netzwerken vom Schlafen abhalten konnte. Dass ich trotzdem noch nicht schlief war egal – die Hauptsache war, dass ich es wenigstens versucht hatte. Ich entsperrte es, las eine Nachricht von Lisa, die vor gut einer Stunde mitteilen wollte, dass sie nun ins Bett ging und mich morgen anrufen würde. Ich antwortete ihr nicht, weil ich nicht wollte, dass sie wach wurde und beendete die App.
Stattdessen öffnete ich mein Telefonbuch, um Bastis Nummer vorerst einzuspeichern. Ich hoffte darauf, irgendetwas aus seinem Whats-App-Bild oder seinem Status lesen zu können. Doch lediglich ein Ball im Status und ein Bild von einem Sonnenstrand zierten sein Profil. Irgendwie hätte ich mir doch gleich denken können, dass Basti keinen Status oder gar ein Bild hochladen würde, das auf irgendetwas hinweisen würde.
Leicht verzweifelt stütze ich mein Kinn auf meiner Hand ab und starrte das leere Chat-Fenster an. Ich könnte ihm auch einfach schreiben. Schreiben war doch meist viel einfacher als mit jemandem zu reden, oder nicht? Aber wollte ich die Sache so angehen? Irgendwann musste ich mich eh mit ihm auseinandersetzen. Spätestens dann, wenn er einem Treffen zustimmen würde. Also könnte ich ihn auch gleich anrufen. Ich fand es irgendwie persönlicher. Und desto persönlicher es war, desto ängstlicher wurde ich.
Ich beließ es dabei, schloss das Chat-Fenster und scrollte durch meine Telefonliste um neben seinem Namen auf den grünen Hörer zu drücken. Meine Finger zitterten unaufhörlich und für einen Moment hatte ich Angst, dass mir das Handy aus der Hand fallen würde. Mein Bauch rumorte, mir wurde augenblicklich schlecht und ich hatte Mühe, nicht sofort wieder auf den roten Hörer zu drücken. Das Freizeichen ertönte. Es machte tut. Ein Mal, zwei Mal, drei Mal, vier-
»Ja?«, seine schlaftrunkene Stimme ertönte, als ich nicht mehr damit gerechnet hätte und ließ mich zusammenzucken. Ich wollte antworten, doch ich konnte nicht. Ich öffnete meinen Mund, doch es kam kein einziger Ton heraus. Ich wollte auflegen, doch meine Hand ließ sich nicht mehr lenken.
»Hallo?«, er klang wacher und irgendwie wütend. »Sehr lustiger Scherz!«, fauchte er nur noch seufzend und im nächsten Moment, ehe ich noch irgendetwas sagen konnte, preschte mir das stetige Tuten entgegen. Er hatte aufgelegt. Es war ihm nicht zu verübeln, schließlich war es mitten in der Nacht und drei Uhr nun wirklich nicht mehr die Zeit, an dem jemand wach war, der am nächsten Tag womöglich zum Training musste.
Als ich realisierte, was eigentlich gerade passiert war, klickte ich mich binnen weniger Sekunden durch meine Einstellungen, um nachzusehen, ob ich meine Nummer unterdrückt hatte. Hatte Basti meine Nummer nämlich noch eingespeichert, würde er spätestens morgen früh nach einem Blick in seine Anrufliste sehen, dass ich diejenige war, die ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Aber ich konnte aufatmen – meine Nummer würde nur Unbekannt angezeigt werden.
Ich verstand, was ich gerade getan hatte. Ich realisierte, dass ich seine Nummer gewählt und seine Stimme gehört hatte. Ich realisierte, dass ich Kontakt aufgenommen und die Vergangenheit wieder heraufbeschworen hatte. Ich realisierte, dass mein Herz für einen Moment auftaute und die Mauer vor ihm bröckelte. Ich realisierte, dass ich etwas getan hatte, vor dem ich zuvor noch unglaublich Angst und Respekt hatte.
Mein Handy lag vor mir auf dem Tisch, ich hatte meine Hände in meinen Haaren vergraben und das erste Glas Wein geleert und hatte ein Wirrwarr in meinem Kopf, das ich nicht beschreiben konnte. Ich war innerlich total aufgewühlt und wusste nicht, wie ich es hätte ordnen können. Da waren so viele Fetzen von Gedanken, Gesprächen und Momenten, die einen Tango in meinem Kopf tanzten. Da waren Geräusche und Worte, Lieder und Gerüche die ich mit Basti verband und ich hatte einfach das Gefühl, dass ich mitten in Brasilien neben ihm am Strand saß.
Dem Drang nach Betäubung nachgehend, nahm ich den Korken von der Rotweinflasche und schenkte mir ein weiteres Glas ein. Ich wusste, dass ich nicht ins Bett gehen konnte, sondern die Nacht womöglich bis morgen Früh hier sitzen würde, und war so unendlich froh, dass Oli einen tiefen und vor allem festen Schlaf hatte. Auch wenn er gut darin war, mich von all meinen Gefühlen abzulenken, war es in diesem Moment nicht das, was ich wollte. Irgendwie wollte ich mich quälen und an Basti denken – auch wenn es wehtat.
Mein Handy vibrierte auf dem Tisch vor mir und verursachte dadurch ein dumpfes Geräusch. Für einen Moment schloss ich – aus Angst, dass meine Nummer doch nicht unterdrückt angezeigt wurde – die Augen und hoffte, dass nicht sein Name auf dem Display stehen würde, sobald ich sie öffnete. Vorsichtig lugte ich auf mein Handy und hatte das Gefühl einen Stein auf den Dielenboden fallen zu hören. [i]Paps[/i] stand groß auf dem Display und mein Vater lächelte mich von seinem Kontaktbild breit an.
»Hey Paps.«, ging ich ran und lehnte mich im Stuhl zurück. Fast schon erleichtert, dass er genau jetzt anrief und ich wen zum Reden hatte, stieß ich Luft aus.
»Alles gut, Livi?«, begrüßte er mich und ich konnte seine Müdigkeit durch seine Stimme klingen hören.
»Das kann ich dich fragen. Deine strikte Regel ist es, spätestens um zwölf aus dem Restaurant raus zu sein – also warum bist du noch wach und klingst so erschöpft?«, ich machte mir fast Sorgen, weil es meinem Vater nicht ähnlich sah, seine eigenen Regeln zu brechen. Es hatte lange gedauert, bis er wirklich seiner eigenen Anweisung nachgegangen und um spätestens Mitternacht das Restaurant verließ, damit er am nächsten Tag fit genug für eine neue anstrengende Schicht war, und dass er sie jetzt brach, ließ mich aufhorchen.
»Ich war heute mit deiner Mutter selber Gast und wir saßen bis vor einer halben Stunde noch mit den anderen zusammen. Wir haben uns tatsächlich verquatscht.«, Paps lachte leicht auf und zauberte mir sofort ein Lächeln auf die Lippen. »Ich habe gesehen, dass du noch online bist. Was ist los, Livi?«
Ich seufzte und war so unendlich froh, dass mein Vater mich so gut durchschauen konnte. »Vor dir kann ich wohl gar nichts verheimlichen, was?«
»Nein, absolut nicht.«, ich spürte, wie er grinste. »Deine Mutter ist noch duschen, also haben wir noch Zeit zu reden.«
»Ich habe Basti angerufen.«, gab ich knapp von mir. Mein Vater wusste von der Aktion mit der Zeitung. Er wusste, was ich für einen Aufstand bei Thomas und Lisa gemacht hatte und er wusste, dass Basti mich ab und an noch immer beschäftigte. Wie sehr wusste er nicht – er dachte, dass ich – soweit ich dazu in der Lage war – mit Oli glücklich war. Es tat mir weh ihn in gewisser Weise anzulügen, aber noch viel würde es mir wehtun, wenn er sich Sorgen um mich machen würde.
»Du wolltest ihn fragen, ob ihr euch treffen könnt.«, stellte mein Vater fest und brachte es wieder einmal auf den Punkt.
»Woher weißt du, dass ich es wollte und doch nicht gemacht habe?«, ich seufzte und nippte an meinem Glas.
»Weil du meine Tochter bist.«, ich spürte wie er lächelte und drehte das Glas zwischen meinen Finger hin und her als ich es zurück auf die Tischplatte gestellt hatte. »Deine Mutter und ich hatten früher auch mal eine Funkstille und ich wollte mich bei ihr melden. Als sie ans Telefon gegangen ist, habe ich mich gefühlt, als wäre ich gelähmt. Ich konnte nichts machen, nicht einmal auflegen.«, sprach er mir aus der Seele. Anscheinend musste ich wirklich was von ihm haben.
»So ging es mir auch.«, gab ich zu. »Seine Stimme zu hören war.. ich habe das Gefühl, dass es sein muss, dass wir uns noch einmal treffen. Ich hätte ihm damals doch noch die Chance geben sollen sich erklären zu können.«, sah ich nach und nach meinen Fehler ein. Manchmal brauchte man Zeit um Fehler einzusehen, um zu verstehen, dass man etwas falsch gemacht hatte. Manchmal war es zu spät, doch ich hoffte, dass ich trotzdem noch die Chance bekommen würde. Irgendwann. Ich wollte nicht, dass wir mit einem Happy End, als verliebtes Paar aus der Sache rausgingen, aber vielleicht.. vielleicht war es eine Hilfe das alles zu verarbeiten, wenn er mir ruhig erklärte, was in ihm vorgegangen war. Ich musste es nur irgendwie zulassen.
»Du bist so unglaublich erwachsen geworden, Livi.«, seufzte mein Dad und ich hörte die Bettdecke am anderen Ende der Leitung rascheln. »Ich bin mir sicher, dass ihr wie zwei vernünftige Menschen miteinander sprechen könnt ohne dass ihr euch die Haare raus reißt. Ihr müsst es nur zulassen und nicht nur gegeneinander arbeiten, sondern miteinander.«
»Ich weiß, Daddy.. «, hauchte ich. »Ist Mum fertig mit duschen?«
»Ja, sie ist grade ins Bett gekommen.«
»Hi, Liebling.«, hörte ich ihre Stimme auch schon aus der Ferne zu mir ans andere Ende der Leitung dringen.
»Gib Mum einen Kuss von mir. Ich hab euch lieb.«, sagte ich melancholisch und hatte das Gefühl von dieser Stimmung umarmt zu werden. Zuhause war doch sicher alles viel einfacher, kam mir in den Sinn. In den Armen von Mum und Paps.
»Wir dich auch. Schlaf gut, Livi.«, sagte Paps.
»Gute Nacht.«, gab ich nur zurück, drückte auf den roten Hörer und fühlte mich binnen weniger Sekunden wieder allein. Allein mit meinen Gedanken. Allein mit meiner Sehnsucht. Allein mit meinem Herz.
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Nichts tut für immer weh
Fanfiction[Fortsetzung von "Another Love"] »Und mein Herz schlägt weiter auch wenn es fürchterlich brennt, wenn alles hier zerfällt.« - Liv hatte den Knopf für das Verdrängen gefunden. Nicht dran denken, Gefühle überspielen und mit anderen Gefühlen bekämpfen...