»Er ließ mich einfach gehen.«

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  »Halt still und bloß nicht reden!«, ermahnte Lisa mich, als sie mit einem weißen und einem schwarzen Schminkstift in meinem Gesicht herumfuhr. Meine Lippen malte sie weiß nach und zog senkrechte dünne Linien von kurz über der Oberlippe bis kurz über das Kinn, meine Augen umrandete sie so schwarz, dass sie die Höhlen darstellen sollten, vom Ohr bis hin zum Mund malte sie genauso gut wie es ging das Skelett nach und auch den Hals und das Dekolletee bedeckte sie mit aufgemalten Knochen. Meine eigentlich blonden Haare hatten wir mit schwarzem Haarspray und Haarmascara vollkommen dunkel bekommen und leicht auftoupiert, damit sie ein bisschen luftiger aussahen. Dazu trug ich eine lange kurzärmlige flattrige schwarze Bluse, eine enge schwarze Jeggings und schwarze Boots. Ich sollte als Skelett durchgehen und hoffte, dass man das irgendwie erkennen konnte.
»Jetzt darfst du dich anschauen.«, Lisa trat einen Schritt zurück und gab mir die Erlaubnis, endlich vom Klodeckel aufzustehen und in den Badspiegel zu schauen. Ich schreckte fast zurück als ich mein Spiegelbild erblickte. Sie hatte die schwarzen Knochen perfekt auf meine komplett weiße Haut gemalt, die Lippen sahen gut eingerissen aus, meine Haare lagen perfekt und.. und irgendwie erkannte ich mich fast gar nicht mit den pechschwarzen Haaren.
»Danke dir, das ist perfekt!«, glücklich lächelte ich sie an und drehte mich zu ihr um.
»Vielleicht wirst du dann auch gar nicht erkannt.«, zwinkerte sie mir zu und bezog den Satz darauf, dass ich heute auf eine Party ging, auf der Basti auch sein würde. Ich seufzte und sah mich noch einmal prüfend an.
»Vielleicht.«, nuschelte ich nur und versank augenblicklich in meinen Gedanken. Ich wusste nicht, wie ich auf die Idee gekommen bin, einer Einladung zu einer Halloween-Party des FC Bayern Münchens zuzusagen. Es war so masochistisch, dass ich mir das antat. Vor vier Tagen hatte ich Bastis Nummer in mein Handy getippt, hatte seine Stimme gehört und war mir sicher, dass ich mich mit ihm aussprechen musste, doch wenn ich jetzt daran dachte, dass ich in einer Stunde im gleichen Gebäude sein würde wie er, durchfuhr mich ein Schauer. Ich hatte so Angst und Respekt davor, dass ich von meinen Gefühlen eingeholt werden könnte, dass es mir fast den Atem nahm.
»Mach dir keine Gedanken, Liv. Da sind so unendlich viele Leute und wahrscheinlich werdet ihr euch überhaupt nicht über den Weg laufen.«, versuchte Lisa mich zu beruhigen und streichelte mir besänftigend über meinen nackten Arm. »Hast du vor ihm zu sagen, dass du es warst, die ihn mitten in der Nacht angerufen hat?«
Ich schüttelte hektisch den Kopf und brachte womöglich meine halbe Frisur damit zum Abstürzen. »Nein, absolut nicht. Ich weiß ja noch nicht einmal, was mit mir passiert, wenn er vor mir steht. Vielleicht schaffe ich es noch nicht einmal normal mit ihm zu reden.«, ließ ich meinen Bedenken freien Lauf und setzte mich zurück auf den Klodeckel. Ich hatte mich mittlerweile auf jegliche Reaktion meinerseits gefasst gemacht, weil ich selbst nicht wusste und kontrollieren konnte, wie ich in dem Moment des Zusammentreffens reagieren würde. Das letzte Mal konnte ich gut fliehen, am Telefon stand er mir nicht direkt gegenüber, doch heute war es anders. Ich wollte Lisa und Thomas den Abend nicht ruinieren und ich wollte mich endlich den Dingen stellen, die mich beschäftigten.
»Wenn es nicht mehr geht, gibst du mir ein Zeichen und dann komme ich mit meinen Pompons und verscheuche ihn.«, Lisa machte eine Andeutung auf ihr Zombie-Cheerleader-Kostüm, das total zerrissen und blutverschmiert an ihrem zierlichen Körper saß und brachte mich tatsächlich zum Lachen.
»Und wenn das nicht hilft, komme ich um die Ecke!«, die Badezimmertür wurde aufgeschoben und ein als Michael Meyers verkleideter Thomas kam mit erhobenem Plastikmesser über die Fliesen geschlichen.
»Oh mein Gott!«, quiekte ich lachend auf. »Ich denke, das Verscheuchen wird dann auf jeden Fall klappen.«
»Du siehst verdammt ekelhaft aus.«, Lisa musterte ihren Mann mit den Händen in die Hüften gestemmt und nickte leicht, um ihre eigenen Worte zu unterstreichen.
»Scheut euch doch mal an.«, erwiderte er nur, drohte uns mit seinem Messer und schob die Maske hoch. »Obwohl ich sagen muss, dass dir das Outfit verdammt gut steht.«, Thomas grinste breit und zog seine Frau an ihrem Arm zu sich und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen.
»Okay, ich ziehe mir meine Jacke an, das Taxi müsste gleich kommen!«, ich ging mit erhobenen Händen aus dem Badezimmer und entzog mich einer Situation, die nicht mehr mit Liebe hätte gefüllt sein können.

»Willst du noch was zum Trinken, Liv?«, Thomas stupste mich mit seinem Ellbogen an und deutete zur Bar, die am anderen Ende der riesigen Halle war. Es war so laut, man hörte durch die laute Musik nur teilweise die Stimmen der Gäste, die Leute waren allesamt schräg verkleidet, dass man sie kaum erkennen konnte und sobald Lisa und Thomas alleine in der Menge verschwanden, hatte ich Angst, dass wir Stunden brauchten, um uns endlich wiederzufinden.
»Ich komme mit, sonst finden wir uns ja nie wieder.«, sagte ich nur, schnappte mir meinen Rucksack und meine Jacke und erhob mich von dem Platz, an dem ich zuvor noch kleine Speisen zu mir genommen hatte.
»Es ist einfach so verdammt viel los hier, du kannst niemandem über den Weg laufen.«, Lisa hakte sich bei mir unter und zog mich an Menschengruppen vorbei und einmal quer durch den Saal. Ein wenig unsicher, ob meine Glückssträhne, dass dieser Fakt wirklich stimmte, noch über die vergangenen zwei Stunden hinaus anhielt, sah ich mich um. Wahrscheinlich würde ich ihn nicht erkennen, weil er verkleidet war, doch trotzdem hoffte ich ihn an irgendetwas Typisches für ihn erkennen zu können.
»Was magst du trinken, Liv?«, Thomas beugte sich leicht zu mir herüber als wir an der Bar angekommen waren.
»Bier!«, gab ich nur kurz von mir und war im nächsten Moment schon wieder vollkommen abgelenkt. Ich war innerlich so unruhig, dass es mir fast den Verstand raubte.
»Werd locker, Liv. Wir sind bei dir und wenn er auftaucht und es gar nicht geht, sind wir weg.«, sprach Lisa mir Mut zu und strich mir für einen kurzen Moment vorsichtig über meine Haare. »Ich bin froh, dass du endlich mal wieder mit uns mitkommst und nicht allem aus dem Weg gehst.«
Ihre treuen Augen blickten mich an und ich wusste, dass es nicht fair war, all die Wochen nach mir auszurichten. Es war nicht fair, dass ich die beiden so sehr in Bezug genommen hatte und jegliche Dinge, zu denen sie mich gern mitgenommen hätten, ausfallen ließ, weil ich Angst hatte, ich könnte Basti begegnen.
»Danke, dass du dich mit mir rum schlägst.«, erwiderte ich nur und drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Wange. Es tat gut, dass sie sich nicht von mir abgewendet hatte, obwohl ich alles andere als einfach war. Ich war froh, dass sie nicht aufgegeben und weiter auf mich eingeredet hatte und.. irgendwie war ich auch froh, dass ich in genau diesem Moment neben ihr vor der Bar stand und das Bier von Thomas entgegennahm.
»Danke dir.«, lächelte ich und prostete den beiden im nächsten Moment schon zu. Ich spürte, wie ich durch Lisas Worte lockerer geworden war und dass das Bier urplötzlich schon ganz anders schmeckte als das, was ich noch vollkommen verkrampft am Tisch getrunken hatte.
»Boah, dieses Lied!«, wir hatten uns an einen kleinen Stehtisch gestellt, als Thomas urplötzlich aufhorchte, sein Bier hektisch auf den Tisch zu uns stellte und zu den ersten Tönen von Lost Frequencies' Are you with me leicht mitwippte. Sein Grinsen war wahrscheinlich kaum zu übertrumpfen und ich konnte nur erahnen, wie breit es hinter seiner Maske war. Lisa und ich sahen uns fragend an, brachen aber in schallendem Gelächter aus, als Thomas anfing, in seinem Michael Meyers Kostüm wie ein Flummi im Kreis umher zu hüpfen, die Beine leicht gespreizt abwechselnd an seinen Körper zog und mit seinen Armen fächernde Handbewegungen machte. Binnen weniger Sekunden hatte er sämtliche Blicke auf sich gezogen, die Leute um uns herum lachten und Lisa stützte ihren Kopf nur in ihren Händen ab.
»Wen habe ich mir da eigentlich angelacht?«, schielte sie zu mir herüber als Thomas in seinen Bewegungen stoppte und von einem Zorro und einem Cowboy angesprochen wurde.
»Einen ziemlich lustigen Herren!«, lachte ich laut und nahm einen großen Schluck Bier. »Ich finde es gut. Wenigstens traut er sich vor versammelter Mannschaft völlig unpassend rum zu tanzen.«
»Stimmt. Besser, als wenn er einen Stock im Arsch hätte!«, Lisas Miene strahlte augenblicklich Stolz aus und ich musste grinsen. »Wer ist das?«
Sofort huschte mein Blick zu Thomas, dem Cowboy und Zorro, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Sie lachten, klatschten ein, umarmten sich, redeten miteinander und sahen alle drei im gleichen Moment zu uns herüber. Sofort überkam mich ein seltsames Gefühl als uns die drei Augenpaare musterten und sie nach kurzem Zögern und Nuscheln zu uns herüberkamen.
»Hallo!«, sagte der Cowboy und streckte Lisa und mir die Hand entgegen. Auch Zorro, der eine Maske über den Augen und einen Hut, der vollkommen ins Gesicht gezogen war, trug, streckte uns die Hand aus und nuschelte ein kaum hörbares Hallo in unsere Richtung. Irgendwie fand ich den Moment seltsam und irgendwie war es mir unangenehm, dass die beiden sich zu uns gesellt hatten.
»Wer ist das?«, stupste ich Lisa unauffällig an.
»Ich hab keinen blassen Schimmer.«, sie sah über ihre Schulter und antwortete mir so für die anderen drei nicht sichtbar. Zwar hörte man die Stimmen absolut nicht, weil die Musik mittlerweile noch lauter gestellt wurde, doch wir gingen auf Nummer sicher.
»Ich versteh auch kein Wort, was sie sagen.«, sagte meine Freundin als sie sich meinem Ohr noch weiter näherte.
»Ich auch nicht!«, sagte ich missmutig und verschränkte meine Arme vor der Brust. Es störte mich noch immer, Unbekannte vor mir zu haben, die sich noch nicht einmal mit mir unterhielten, sondern fast schon mit dem Rücken zu uns standen und sich mit Thomas unterhielten. Auch ich drehte mich ein wenig von ihnen weg und ließ meinen Blick wieder durch den Saal schweifen. Man konnte so viele Menschen in so vielen verschiedenen Kostümen sehen. Irgendwelche Skeletts, Zombies, Kettensägen die als Fake durch den Oberkörper ragten, den Joker, das Männlein auf dem Dreirad aus Saw, irgendwel-
»Hallo Liv.«, ich zuckte hoch und erschreckte mich fast als ich meinen Namen verschwommen und gedämpft durch die laute Musik wahrnahm. Meine Aufmerksamkeit war auf Zorro, der den Blick gesenkt, seinen Hut noch immer weit im Gesicht sitzen hatte und mittlerweile vor mir stand.
»Hi.«, sagte ich und musterte ihn akribisch. Ich konnte kaum etwas von seinem Gesicht sehen. Nur dieses weiche Kinn, die Haut, die leichte Narben hatte und die kleinen und dennoch sanften Lippen.
»Du siehst anders aus.«, sagte Zorro nach kurzem Schweigen. Sein Kopf war noch immer leicht gesenkt, während er sich mit dem einen Arm auf dem Stehtisch neben mich abstützte. »Irgendwie erwachsener.«, er hob seinen Blick und sah mir direkt in die Augen. Blau-graue Augen, genau die gleiche Farbe wie ich sie hatte, blickten mich an. Sie waren ernst, direkt und trotzdem so sanft. Sie waren ehrlich, warm und.. und so vertraut. Mein Herz schlug urplötzlich schneller, meine Hände begannen zu schwitzen und ich hatte das Gefühl, dass meine Beine im nächsten Moment unter mir weg knicken würden. Es war klar, dass nur er Thomas an seiner Tanzeinlage hätte erkennen können. Es war klar, dass es gerade Basti war, der genau das zu mir sagte. Kein anderer, der auf dieser Party hätte sein können, kannte mich so gut, um genau das behaupten zu können. In mir machte sich ein Gefühl breit, das ich nicht beschreiben konnte und gegen das ich innerlich versuchte anzukämpfen.
»Das macht das Kostüm.«, gab ich nur matt zurück und sah Basti dabei zu, wie er seinen Hut aus dem Gesicht zog. Er gab mehr von seinem Gesicht preis, von dem, was ich von ihm kannte, und ich hatte augenblicklich diese Sehnsucht nach ihm. Ich wollte ihn berühren, mehr als den Handschlag von zuvor. Ich wollte ihn umarmen und ihn an mich drücken, ihm sagen dass es mir leid tat und dass ich ihm die Chance geben würde, dass er mir alles erklären könnte. Aber ich stand nur da und starrte ihn an. Ich brachte nichts heraus, weil ich vollkommen in mir gefangen war.
»Gut siehst du aus.«, sagte er so leise, dass mein Blick automatisch auf seinen Lippen hing, um zu wissen, was er mir gesagt hatte.
»Lisa hat mich geschminkt.«, blieb ich weiterhin oberflächlich. Ich wusste, dass Basti nicht unbedingt die Umsetzung meines Kostüms meinte, sondern viel mehr. Aber ich konnte nicht darauf eingehen und ihm etwas Ähnliches erwidern. So sehr mein Herz es auch wollte – ich konnte nicht. Mein Verstand hielt mich zurück. Die Mauer, die sich um mein Herz gebaut hatte, riss mich von ihm weg.
»Sie ist wohl ein Multi-Talent.«, grinste er leicht und zupfte unsicher an seinem Umhang. »Wie geht's dir?«
»Ich.. «, mich überraschte seine Frage und sie brachte mich fast aus dem Konzept. »Gut und dir?«, log ich aus Reflex und quetschte mir das falscheste Lächeln auf die Lippen, das ich nur hatte.
»Nicht so gut.«, gestand er und hielt meinem Blick so sehr stand, dass er wieder etwas in mir auslöste. Wieder brachte er mein Herz zum Purzeln, wieder brachte er die Schmetterlinge zum Fliegen und wieder war ich vollkommen neben der Spur, weil mir wieder einmal bewusst wurde, wie unglaublich doll er mich mit seiner Anwesenheit und mit seinen Worten lenken konnte. Er hatte mich in der Hand, auch wenn er es vielleicht nicht und vor allem obwohl ich es selbst nicht wollte.
»Ich geh mich eben frisch machen.«, sagte ich nervös, sah hilfesuchend zu Lisa, die mittlerweile mit Thomas und dem Cowboy im Gespräch war und griff nach meinem Rucksack, der unter dem Stehtisch auf dem Boden lag.
»Vielleicht.. vielleicht sieht man sich später.«, Basti hob leicht seine Hand und ich spürte, dass er in Panik geriet. Er wollte irgendetwas machen und sagen, hielt in seinen Bewegungen inne, um sie im nächsten Moment wieder zum Leben zu erwecken und legte mir letztendlich leicht die Hand auf meinen nackten Oberarm. Seine Berührung brannte wie Feuer und sofort schnellte mein Blick auf die Stelle, an der er mich berührte. »Entschuldige.. «, er schreckte selbst hoch, als hätte er seine Bewegungen nicht unter Kontrolle und zog seine Hand viel zu schnell wieder weg. Ich sah ihm kurz in die Augen und zog meine Arme noch fester an meinen Körper und presste meinen Rucksack samt Jacke vor meine Brust.
»Ich bin erwachsener geworden, Basti, das macht nicht das Kostüm. Ich habe drei Monate hinter mir, die von mir und meinem Herz verlangt haben, erwachsener zu werden.«, platzte es aus mir heraus. Ich sprach leise und war mir nicht sicher, ob er überhaupt verstanden hatte, was ich gesagt hatte. Er sah mich unverändert an, ein bisschen enttäuscht und verletzt vielleicht, doch er sagte nichts. Er ließ mich einfach gehen.  

Nichts tut für immer wehWo Geschichten leben. Entdecke jetzt