»Es holt mich grade alles ein.«

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  Grummelnd saß ich in der Uni in der dritten Reihe, kritzelte auf meinem Block herum, machte Notizen und lauschte der sanften Stimme meines Professors für Recht zu. Recht war nun wirklich nicht das Fach, das mich interessierte und trotzdem war es umso wichtiger für meinen Abschluss. Meine Sitznachbarn waren mir unbekannt, Freunde oder bekannte Gesichter saßen viel zu weit weg und auch Oli hatte nicht die gleiche Vorlesung wie ich. Ich konnte mich einfach nicht ablenken lassen, obwohl heute einer der Tage war, die eine Ablenkung fast schon voraussetzten. Ich war schlecht gelaunt, hatte schlecht geschlafen und einfach nicht gut drauf. Wenn ich nachdachte, waren meine Gedanken wirr, kaum zu ordnen und genau nennen, über was ich grübelte, konnte ich auch nicht. Es war irgendwie ein Trott, aus dem mich wer rausholen musste.
Mein Smartphone, das neben mir auf dem kleinen Tischchen lag, blinkte auf und zeigte eine Nachricht von Lisa an. Sofort schaute ich, ob der Professor beschäftigt ist, rappelte mich auf und nahm mein Handy in die Hand.

»Ich stehe vor dem Haupteingang deiner Fakultät. Noch zehn Minuten und ich empfange dich für einen Mädels-Tag, einverstanden?«

So schnell wie ich wollte, konnte ich gar nicht antworten. Lisa war der rettende Engel, von dem ich vor wenigen Sekunden noch geträumt hatte.

»Dich schickt der Himmel. Bis gleich!«

Ich drückte auf den Sende-Button und saß die letzten zehn Minuten so motiviert wie noch nie in der Vorlesung für Recht und hatte ein Lächeln auf den Lippen. Ich malte mir aus, welche Dinge ich mir ershoppen würde, welcher Kaffee und welcher Bagel ganz oben auf der Speisekarte standen und welche Neuigkeiten Lisa aus dem Stall oder aus ihrem Freundeskreis mitbrachte, der zu 99 Prozent aus Lästereien bestand. Allein der Gedanke an all die amüsanten Geschichten, die Zickereien und Geschichten, die nur so vor Heuchelei sprühten, brachten mich zum Lachen. Lisa schien immer so unscheinbar und auch wenn sie in diesem Freundeskreis genau die Rolle eingenommen hatte, war sie für mich in den letzten Wochen zu jemandem aufgestiegen, den ich in meinem Leben nicht unbedingt wieder missen wollen würde. Sie hatte Verstand, Vernunft, die nötige Naivität, den Durchblick, die Realität im Blick und einfach ein großes Herz für viele Sorgen und Ängste. Und trotzdem hatte ich noch nie unbedingt mit ihr über Bastian und mich gesprochen. Oli war ein größeres Thema. Oli war aktueller.
»Da bist du ja!«, Lisa schien total aufgewühlt zu sein, als sie ihre Sonnenbrille von der Nase nahm und sich durch sämtliche Studenten quetschte, um mich kurz in den Arm zu nehmen und mir einen Kuss auf die Wange zu hauchen. »Komm, ich nehme dir was ab.«, sofort schnappte sie sich zwei Bücher, die ich aus der Bibliothek ausgeliehen und unter meinen Arm geklemmt hatte, und steckte sie sich in die Handtasche.
»Oh, danke. Da drinnen wimmelt es nur so vor Leuten.«, auch ich war aus der Puste und hasste es, mir Mittags einen Weg ins Freie bahnen zu müssen. Alle wollten raus, in die Kantine oder in Richtung Stadt und manchmal war es fast unmöglich innerhalb weniger Minuten das Gebäude zu verlassen. »Ist alles okay bei dir?«
»Ja, lass uns nur bitte weg von hier. So viele Studenten auf einem Haufen tut mir nicht gut.«, Lisa setzte ihre verzweifelte Miene auf und brachte mich zum Lachen. »Außerdem hast du jetzt Ferien!«
»Ich muss meine Hausarbeit schreiben! Aber nichts wie weg hier!«, ich grinste, hakte mich bei meiner Freundin unter und zog sie durch die etwas abgenommene Masse an Menschen um uns herum. Ihre Nähe tat mir gut und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass der Tag sich längst zu einem guten verändert hatte.

»Okay, ich bin absolut zufrieden mit meiner Ausbeute.«, grinsend deutete ich auf meine zwei Tüten, die ich in der Hand hielt und atmete tief durch, als ich mit Lisa aus dem letzten Klamottenladen für heute kam. Ich war erschöpft aber glücklich darüber, dass sich meine miese Stimmung vom Vormittag in diese ausgelassene und glückliche verändert hatte.
»Ich auch. Und ich finde, dass wir die Kleider, die wir ergattert haben, ausführen sollten.«, schlug Lisa vor und ließ mir mit dem Ausdruck in ihrer Stimme fast gar keine andere Wahl als nickend zuzustimmen.
»Wie wär es mit morgen Abend? Ich könnte dich abholen und wir könnten durch die Innenstadt ziehen. Erst Bar und danach irgendein Club?«
»Das klingt phänomenal!«, sie lachte und schmiegte sich für einen Moment an mich. »Komm, lass uns die Seitenstraßen nehmen, da ist nicht so viel los.«, Lisa zog mich nach rechts in eine kleine Gasse und ich war froh darüber. Das Gehetze der Menschenmengen, die Touristen, die High Society aus München oder eher gesagt die Menschen, die dachten, sie würden genau dazu gehören. Erleichtert atmeten wir beide aus, als um uns herum Platz war und die Gasse fast schon wie ausgestorben wirkte. Ich war hier noch nie, hatte auf meinen Wegen noch nie die kleinen Gassen mit den kleinen gemütlichen Cafés, vor denen die kleinen Tische standen, entdeckt. Es sah schnuckelig und harmonisch aus und für einen Moment vermisste ich den Kiez in Berlin. Das vor den Bars oder Cafés sitzen, mitten auf dem Bürgersteig der eigentlich viel zu klein war und auf dem sich noch die einzelnen Menschen entlang drängten. Sofort überkam mich eine Gänsehaut und eine schöne Melancholie machte sich in mir breit. Ich vermisste meine Stadt, meine Ecken, meinen Vater und meine Mutter, einfach die gewohnte Umgebung, doch viel mehr auch nicht. Ich hatte nichts mehr, was mich da gehalten hatte und die Chance, einen Neustart zu beginnen, hatte mich einfach froh gemacht. Auch wenn ich wusste, dass ich in Bastis zog und ihm näher war, als ich es eigentlich vorgehabt hatte. Durch Oli vergaß ich sogar, dass er mir nah war, obwohl er nicht bei mir war.
»Schau mal, hier gehen Thomas und ich öfter hin. Es ist so schön dort und so ruhig. Da kann man so richtig vergessen, dass man einen Fußballspieler als Mann hat.«, Lisa stupste mich an und riss mich aus meinen Gedanken. Lächelnd sah ich ihrem Blick nach und musterte das Schild, das über der Eingangstür ganz edel und doch zurückhaltend den Namen des Cafés verriet. [i]BlauesLoch[/i], stand dort geschrieben und augenblicklich blieb ich wie angewurzelt stehen und verlor meinen Arm aus Lisas. Ich kannte den Namen und ich wusste, wo wir uns befanden. Basti hatte mir in etlichen Gesprächen von genau diesem Café erzählt. Ich hatte mich immer wieder über den Namen lustig gemacht, weil er mir so absurd und unvorstellbar vorkam und trotzdem gab es das Café. Und ich stand genau da vor. Binnen weniger Sekunden wurde ich zurück in die Zeit mit ihm gerissen, fühlte wieder den Schmerz, die Enttäuschung und all die Gefühle, die ich mit ihm in Bezug brachte.
»Alles okay?«, Lisa drehte sich verwundert zu mir um und blinzelte gegen die wenigen Sonnenstrahlen, die Tag für Tag immer mehr verebbten, an. »Liv?«
Ich schreckte erst hoch, als ich meinen Namen hörte und riss endlich meinen Blick von den blauen Buchstaben, die nur zu gut zu dem Namen passten. »Hm?«
»Ob alles okay ist?!«, Lisa kam zu mir, hakte sich wieder unter und zog mich ein Stück mit sich. Doch meine Beine hielten stand, ließen es kaum zu, dass sie bewegt wurden und auch mein Blick huschte sofort wieder zu dem Eingang. Was, wenn er in genau diesem Moment das Café verließ? Mit entgegenkommen würde, weil er es betreten wollen würde? Oder mit Sarah dort drinnen genüsslich einen Kaffee trank, nicht an mich dachte und mich in genau diesem Moment dabei erwischte, wie ich gedankenverloren das Haus anstarrte?
»Ich.. ich weiß nicht. Nein.. «, ich klang fast verzweifelt und ließ allem Anschein nach Lisas Alarmglocken läuten.
»Komm mit, wir setzen uns darüber.«, sie zog mich fast schon hinter sich her um eine Hausecke, hinter der sich ein kleines Stück Rasen befand. Für eine Art Park war es zu klein, zum Sitzen reichte es alle Male aus.
»Basti hat mir davon erzählt. Er.. oh Gott.«, mir wurde augenblicklich bewusst, dass mich gerade alles einholte, das ich verdrängt hatte und ich bekam Angst und Panik. Sofort schlug ich meine Hand vor meinen Mund um ein aufkommendes Schluchzen zu unterdrücken.
»Sprich mit mir.«, forderte Lisa mich auf und legte ihre Hand sanft auf meinen Unterarm, der von einem weiten lässigen Blazer bedeckt war.
»Es holt mich grade alles ein.«, gestand ich ihr und sah sie hilfesuchend an. Lisa kannte Bastis und meine Geschichte aus Thomas Erzählungen, wusste aber nie, wie ich gefühlt hatte – zumindest habe ich ihr nie in der Hinsicht mein Herz ausgeschüttet. Ich wollte das alles nicht hochkommen lassen.
»Erzähl mir von Basti.«, flüsterte sie fast und lächelte mich sanft an, während sie ihren Griff um meinen Arm verstärkte. Auch wenn ich nie gewollt habe, dass jemand von mir offen gelegt bekam, wie ich fühlte, weil ich dachte, dass das Verdrängen alles gut machen würde, wusste ich, dass jetzt genau der richtige Zeitpunkt war, um jemandem davon zu erzählen. Früher oder später, auf kurz oder lang, würde ich mit ihm konfrontiert werden – bei heute würde es nicht bleiben.
»Das war so verrückt. Eigentlich wollte ich damals gar nicht irgendwie mit den Spielern in Kontakt treten oder so.«, fing ich lächelnd an und dachte daran zurück, wie unbeschwert das alles auf irgendeine Art und Weise war. »Ich kam mit Basti ins Gespräch und habe gleich gemerkt, dass wir uns auf einer ganz anderen Eben unterhalten. Irgendwie hat er mein Herz berührt. Wir hatten dann schnell ein Ritual am Morgen, dass er am Strand hockt wenn ich surfe und dass wir danach einfach da sitzen und uns unterhalten, bevor der ganze Trubel losgeht. Eigentlich hatten wir dann nach jedem Spiel ein Ritual. Wir haben immer irgendetwas unternommen. Er ist mir mit jedem Wort und mit jedem Treffen immer mehr ans Herz gewachsen und irgendwie.. irgendwie habe ich mich in ihn verliebt.«, ich seufzte auf und spürte, dass es mir gut tat, dem ganzen Luft zu lassen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Herz leichter wurde, obwohl es weh tat darüber zu sprechen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, endlich wieder richtig atmen zu können. »Es gab so viele Momente, in denen mir klar war, dass wir irgendwie eine Zukunft in Deutschland hatten, aber auf der anderen Seite wusste ich, dass es nicht sein kann, weil Sarah an Bastis Seite war.«
»Er hat sich nicht getrennt.«, stellte Lisa fest und drückte meinen Arm für einen Moment fester.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Und am Ende ist sie im Camp aufgetaucht und auch wenn er mich von etwas anderem überzeugen wollte wusste ich, dass.. «, ich holte tief Luft und spürte, wie meine Stimme anfing zu zittern. »dass er sich für Sarah in diesem Moment entschieden hat.«
Lisa sagte vorerst nichts, sondern strich mir sanft über mein Haar, als vereinzelte Tränen über meine Wangen flossen ohne dass ich es spürte. Sie flossen einfach und ich konnte nichts dagegen tun. Ich hatte mich immer gegen diese Gedanken gewehrt und in diesem Moment konnte ich es einfach nicht.
»Es tut so weh zu wissen, dass er sie berührt und küsst und ich.. einfach irgendwer für ihn war.«
»Basti ist nicht der Mensch für sowas, Liv.«, hauchte Lisa und ich sah sie an. Sie kannte Basti, er war der beste Freund ihres Mannes und trotzdem zweifelte ich daran.
»Und warum hat er es dann so enden lassen?«, fragte ich sie so verzweifelt, als hätte ich die Hoffnung, dass sie mir genau die Antwort hätte geben können, auf die ich wochenlang gewartet hatte.
»Ich weiß es nicht und es wäre wahrscheinlich egal, was ich denken würde, warum er etwas getan hat – es zählt für dich nicht, weil es nicht von ihm kommt und nur er dir die Antwort geben kann.«, Lisa zog mich kurz zu sich herüber und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. »Du darfst das alles nicht in dich reinfressen, Liv. Sonst zerfrisst es dich von innen.«
»Anders tut es zu doll weh.«, sagte ich und wischte mir die Tränen von den Wangen.
»Deswegen auch Oli? Um dich abzulenken?«, fragte meine Freundin vorsichtig. Ich hatte das Gefühl, dass wir uns mit diesem Gespräch einen Schritt angenähert hatten. Wir hatten eine Freundschaft geführt, die toll war, aber jetzt hatte ich das Gefühl, dass sie auch noch Tiefgrund besaß, den uns so schnell keiner mehr nehmen konnte.
»Nein, ich mag Oli wirklich.«, winkte ich ab und antwortete ihr so ernst, wie es nur möglich war. Ich mochte ihn, er war attraktiv, aber ja – er war eben nicht Basti. Und da ich Basti nicht haben konnte, hatte ich Oli, der mich für den Moment glücklich machte.
»Solange er dir nicht wehtut, stehe ich dir als Freundin nicht im Wege.«, versicherte Lisa und zog mich zurück in den Stand. »Was hältst du davon wenn du mit zu Thomas und mir kommst? Wir könnten was kochen und mit ihm essen wenn er vom Training kommt.«
»Das klingt schön.«, lächelte ich und war froh nach diesem Gespräch nicht sofort in meine einsame Wohnung zurückzukehren. Klar, ich hätte mir Oli einladen können, aber irgendwie.. irgendwie war mir danach den Abend mit Lisa und Thomas zu verbringen.
»Wir könnten auf deinen letzten Unitag anstoßen.«, schlug sie vor und zog mich hinter sich her in die entgegengesetzte Richtung des Cafés.
»Abgemacht.«, lächelte ich zustimmend und sah sie an. »Sag Thomas aber bitte nichts von dem, was ich dir hier gesagt habe, okay?«
»Du bist meine Freundin und auch wenn ich dich durch Thomas kennen gelernt habe, heißt es noch lange nicht, dass er alles erfährt.«, zwinkerte sie mir zu und ich wusste, dass ich mich auf sie verlassen konnte.  

Nichts tut für immer wehWo Geschichten leben. Entdecke jetzt