»Mach nicht den Fehler und lass das Gute an dir vorüberziehen.«

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  Ich hatte zwischenzeitlich verlernt wie es sich anfühlte glücklich zu sein, doch als ich mitten in München vor einer kleinen Bar, im tiefen November, wo es eigentlich kalt und ungemütlich sein sollte, saß und die letzten Sonnenstrahlen am Tag auf meiner Nasenspitze fühlen durfte, wusste ich, dass dieser Moment pures Glück war. Thomas Lachen drang in meine Ohren, gemischt mit dem meines Vaters, Lisas Hand lag auf meinem warm eingepackten Rücken und auf meinen Lippen hatte sich ein breites Lächeln niedergelegt. Lisa und Thomas hatten von Papas Besuch gewusst, noch lange bevor ich es nur hätte ahnen können und standen heute, einen Tag nach seiner Ankunft und einen Tag vor seiner Abreise strahlend vor mir und hoben nur beschwichtigend die Arme, als ich mit Fäusten geballt auf sie zugegangen war. Die beiden waren die besten Freunde, die ich mir wünschen konnte und auch wenn es keiner direkt ausgesprochen hatte, wusste ich, dass Thomas meinen Vater womöglich angerufen hatte, um ihm zu erzählen, dass ich mich immer und immer mehr zurückzog. Ich hatte mich eine Woche in meiner Wohnung verschanzt, war jeglichen Versuchen von Thomas und Lisa mich rauszulocken, aus dem Weg gegangen und das wussten wahrscheinlich selbst sie, dass mir nichts anderes als ein Stück Heimat gut tun würde. Und hier saß mein Stück Heimat – mein Vater.
Glücklich lehnte ich mich mit meinem Kopf gegen seine Schulter und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Ich horchte seiner Stimme, Thomas und Lisa, der hitzigen Diskussion über irgendwelche Kleinigkeiten, ich sog Dads Geruch so tief ein, dass mir fast schwindelig wurde, und trotzdem hatte ich Angst, dass ich ihn viel zu schnell wieder vergessen könnte. Ich wollte ihn bei mir tragen, jeden Tag, und trotzdem hatte ich von Tag zu Tag immer mehr das Gefühl, dass Erinnerungen die Gabe hatten, zu verblassen je mehr Zeit ins Land zog. Ich wollte nicht, dass es wieder passierte, vor allem weil sich mit seiner Abreise morgen wieder die Ungewissheit auf ein nächstes Treffen breit machte.
»Bitte nicht.«, Thomas Stimme hatte sich von der Tonlage und von seinem Ausdruck so sehr verändert, dass ich förmlich zusammenzuckte. Die Luft schien urplötzlich so unendlich dick um uns herum und die Stimmung war gekippt. Keiner musste es sagen, man spürte es einfach.
»Was.. ?«, ich blickte auf, nahm den Kopf von der Schulter meines Vaters und folgte Thomas Blick, der in eine kleine Menschenmenge, die gerade an der kleinen Bar vorüber ging, hängen blieb. Sofort wusste ich, was er meinte, wen er meinte, und warum die Laune so unendlich angespannt war.
»Oli.«, ich lächelte leicht aufgesetzt, weil mich sein zufälliges Auftreten vollkommen aus dem Konzept riss, und ließ mich im nächsten Moment auch schon in seine Arme ziehen. Er war überschwänglich, wahrscheinlich hatte er nur Thomas gesehen und wollte ihm eins auswischen, weil er ihn genauso wenig leiden konnte wie anders herum, und auch der Geruch nach Alkohol, der aus seinen Poren strömte, bewies mir nur, dass er längst nicht mehr nüchtern war.
»Meine liebe Liv.«, er grinste mich breit an, sein Lallen musste er beim Reden stark unterdrücken, und schon lagen seine Lippen auf meinen. Ich konnte nicht so schnell reagieren wie ich in diesem Moment gewollt hatte. Ich konnte den Kuss auch nicht erwidern. Ich stand einfach nur da, verkrampfte mich schlagartig, spürte den Blick meines Vaters in meinem Rücken und konnte aus dem Augenwinkel erkennen, wie Lisa ihre Hand auf Thomas Arm legte um ihn zurück zu halten. Ich war im falschen Film. Meine lockere Affäre küsste mich auf offener Straße. Vor meinen Freunden. Und Himmel Herrgott – vor meinem Vater.
Ich wollte mich nicht wieder umdrehen, ich wollte ihn nicht vorstellen, ich wollte ihn einfach nur wegschicken und alles ungeschehen machen. Ich hatte nicht vorgehabt, meinem Vater davon zu erzählen, weil ich wusste, dass es ihm Sorgen bereiten würde. Ich war so nicht, mein Vater kannte diese Seite von mir nicht. Er kannte mich zu gut, so gut, dass er wusste, dass es mir schlecht gehen musste, um mir einen Mitstudenten zu angeln und eine lockere Affäre mit ihm zu haben.
»Was.. was machst du hier, Oli?«, blendete ich den Fakt, dass mein Vater uns wahrscheinlich nur so anstarrte, gekonnt aus. Er wartete womöglich auf eine Erklärung, aber ich war noch nicht bereit mich dem zu stellen. Ich wusste ja nicht einmal, was ich ihm sagen sollte.
»Ich bin mit den anderen aus dem Semester unterwegs und habe dich hier gesehen und da gehe ich doch einfach nicht.. «
»Liv, vielleicht sollten wir langsam los?«, Thomas stand plötzlich neben mir, erschreckte mich, und so unfreundlich es auch war, dass er einfach in unser Gespräch einstieg und uns unterbrach.. ich war ihm dankbar. »Wir wollten bei uns noch einen Wein mit deinem Dad trinken.«, bei dem Wort [i]Dad[/i] schielte Thomas extra provokant zu Oli und nickte in die Richtung aus der er gekommen war.
»Dein Dad? Dann.. mensch, warum sagst du denn nichts?«, Oli lächelte, drückte seine Hand an meinem Oberarm leicht zu - eine Geste, die ich in einem anderen Moment als schön empfunden hätte – und quetschte sich schon fast an mir vorbei. Ich versuchte mich unauffällig in seinen Weg zu stellen, doch er blieb stur, drückte sich an mir vorbei und stand im nächsten Moment auch schon vor meinem Vater.
»Hallo, ich bin Oli. Freut mich.«, er streckte meinem verwunderten und deutlich verwirrten Vater seine Hand entgegen und grinste ihn genauso breit an wie mich zuvor. Ich platzte fast vor Wut, war gefangen in Angst, Erklärungsangst und meinem brodelndem Blut. Ich mochte Oli, doch nicht so, dass mein Vater ihn kennenlernen musste. Ich mochte Oli und trotzdem hätte ich es als schöner empfunden, wenn Basti aus irgendeiner Menschentraube zu uns herüber gekommen wäre, um meinen Vater zu begrüßen.
»Hallo.«, gab er nur matt von sich. Kein Lächeln, kein besonders lange Schütteln der Hände, kein Vorstellen mit dem Namen. Er sah ihn einfach nur an, brachte Oli damit in Bedrängnis und in eine für ihn anscheinend mittlerweile doch unangenehme Situation. Irgendwie hatte ich das Gefühl etwas tun zu müssen, weil sich zwei Menschen gegenüberstanden, die in meinem Leben eine bestimmte Rolle hatten. Oli die Rolle des Menschen, der mich oberflächlich glücklich machte, an meiner Schale kratzte und nie wirklich in mein Innerstes sehen konnte, und mein Dad, der von all dem genau das Gegenteil war. Sie waren so unterschiedlich und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass es meinem Vater nicht passte, einen anderen Menschen als Basti an meiner Seite zu sehen. Ich wusste, dass er anfangs sauer auf ihn war, dass er ihn aber auch irgendwo verstand. Mein Vater war so neutral und war für niemanden, er konnte sich in jeden hineinversetzen, und genau deswegen hoffte er vermutlich noch immer auf ein Comeback von Basti und mir. Es war ihm nicht zu verübeln – ich war schließlich trotz aller Umstände, die damals geherrscht hatten, unendlich glücklich.
»Ich denke, wir sollten gehen.«, Lisa lächelte, auch wenn ich wusste, dass ihr gar nicht danach war, und als sie die Stille unterbrach, wurde mir erst bewusst, wie lange wir uns alle einfach nur schweigend angesehen haben mussten. Die Situation spitzte sich zu und wenn ich einem kompletten Desaster entfliehen wollte, mussten wir wirklich gehen.
»Bis dann, Oli.«, ich sah ihn mit einer Distanz in den Augen an, die ihn anscheinend erschreckte. Er sah mich verwundert an, seine Augenbrauen zogen sich zusammen, und seine Haltung wurde nervös. Er wusste nicht, wie er sich verabschieden sollte, ging daher einfach ein paar Schritte rückwärts, hob seine Hand für einen Moment und deutete ein leichtes Winken an, um sich dann umzudrehen und der Menge hinterher zu laufen, die er zuvor verlassen hatte. Wahrscheinlich war es sich gar nicht so bewusst darüber, in welche Situation er geplatzt war. Er wusste nicht, dass mein Vater dabei war, er wusste nicht, was in mir drin herrschte und dass ich eigentlich nicht der Affären-Typ war, weswegen keiner aus meinem Umfeld in Berlin davon Wind bekommen sollte. Vielleicht wollte er einfach nett und zuvorkommend sein. Doch trotzdem hat er so eben eine Grenze überschritten, die es in einer Affäre nicht zu überschreiten ging. Das alles zwischen uns war oberflächlich und das Vorstellen gegenüber der Eltern der jeweils anderen Person war genau das Gegenteil von oberflächlich.
»Wer war das denn?«, mein Dad meldete sich von uns allen zuerst zu Wort. Wahrscheinlich war er sich auch nicht so klar, in welcher Situation er sich gerade befand, denn wir anderen räumten schweigend unsere Sachen zusammen und fanden kein Wort, das in diesem Moment passend und angebracht gewesen wäre. Wir sahen uns nur kurz an, versuchten uns mit Blicken zu verständigen und trotzdem wusste ich, dass es letztendlich meine Sache war, meinem Dad zu erzählen, welcher junge Typ mich mitten in München küssen durfte.
»Ich glaube, das erkläre ich dir zu Hause.«, nuschelte ich in meinen Schal, den ich mir weiter ins Gesicht gezogen hatte als zuvor. Ich hatte das Gefühl mich verstecken zu müssen, bevor ich meinem Vater gestand, was für ein Mädchen er auf die Welt gebracht hatte. Ich war mir zuvor so sicher gewesen, dass Oli die richtige Entscheidung war. Dass es richtig war mich von Basti abzulenken und dafür einen Menschen zu nehmen, mit dem ich ein oberflächliches Verhältnis führen konnte. Doch jetzt, in diesem Moment, nach der Begegnung mit meinem Vater, nach seinen Blicken und nach Thomas Reaktion fing ich das erste Mal an darüber zu grübeln und alles infrage zu stellen, was ich hier in München im Bezug auf Oli begonnen hatte.

»Willst du mir erzählen wer das vorhin war?«
Die Stimme meines Vaters durchbrach die kalte Nachtluft und ließ mich zusammenzucken. Das Glas Wein in meinen Händen schwappte hin und her und auch die Finger, die meine Zigarette hielten, rissen sich fast wie von selbst auseinander. Ich war so sehr zusammen gefahren, dass mir augenblicklich klar wurde, wie sehr ich in meinen eigenen Gedanken gefangen sein musste.
»Ich dachte du wolltest schlafen gehen?«, seufzte ich, versuchte meinen Herzschlag nach dem Schreck wieder zu regulieren und zog meine Beine vom Stuhl, um meine Füßen auf dem Boden abzustellen. Ich dachte, dass ich um eine Erklärung herum gekommen sei, doch dass mein Vater jetzt noch einmal vor mir stand und fast schon forderte von der Geschichte hinter Oli und mir zu erfahren, machte mich nervös. Er musste den ganzen restlichen Abend über gewartet haben, ob ich von allein mit der Sprache rausrückte und die Begegnung noch einmal ansprach, doch das hatte ich nicht und anscheinend hatte ihn dieser Fakt nicht schlafen lassen. Ich redete mit ihm über ungefähr alles und dass ich ihm etwas verheimlichte, das so offensichtlich war, ließ ihm keine Ruhe, das wusste ich.
»Du verheimlichst mir was, Liv.«, sagte er so direkt wie er nun mal eben war. Wieder ließ mich seine Stimme zusammenzucken, doch jetzt vielmehr, weil ich ihn anlog und weil ich ihm in den nächsten Minuten eine Seite von mir offenbarte, die er nie kennenlernen sollte und die ich selbst nicht von mir kennen wollte.
»Paps, das.. das ist nicht so wie es aussah vorhin.«, ich drückte die Zigarette in dem Aschenbecher aus und stellte mein Weinglas auf den Tisch neben mir. Mein Vater lehnte sich vor mich an das Geländer und sah mich fast schon durchdringend an. »Das war Oli und.. und der war halt betrunken.«
»Wenn Oli dein neuer Freund ist, dann kannst du mir das ruhig sagen.«, ein versöhnliches Lächeln umspielte die Lippen meines Vaters. Das schlechte Gewissen kam in mir hoch, weil ich ihn auf eine Fährte lockte, die völlig falsch war und die mir nur anbot, ein weiteres Mal etwas zu verheimlichen oder gar zu lügen.
»Dad, Oli und ich.. wir haben eine Affäre.«, es war raus, ich spürte die Farbe in meine Wangen steigen und hielt fast schon die Luft an.
»Ich weiß.«, sein Lächeln war verschwunden, seine Miene fast versteinert und er machte mir Angst. Ich war verwirrte, wusste gar nicht mehr was ich selbst glauben oder denken sollte und nahm zur Beruhigung einen großen Schluck von meinem Wein.
»Woher.. «
»Liv, ich bin nicht doof. Ich weiß, dass es dir beschissen geht. Ich weiß, dass du Basti noch immer liebst und nichts sehnlicher willst als an seiner Seite zu stehen. Ich weiß, dass du deine Gedanken am Wochenende im Alkohol ertränkst, deine Lungen mit Rauch von Zigaretten fühlst und all die Gefühle, die aufkommen, wenn du an Basti denkst, mit irgendeinem Typen verdrängst.«, mein Dad stieß Luft aus und sah kurz in den Himmel, als würde er meinem Blick, der ihn fast durchstach, ausweichen wollen.
»Paps, aber.. «
»Nein, nichts aber, Livi.«, er kniete sich zu mir herunter und legte seine warmen Hände auf meine nackten Knie. »Du wolltest glücklich sein, du hast die Chance bekommen die du haben wolltest, du wolltest endlich wieder deinen Weg gehen. Du gehst ihn, aber.. aber du lässt dich von deinem Kopf und deiner Angst dich deinen Gefühlen zu stellen auf einen völlig anderen und vor allem falschen Weg drängen.«
»Wie meinst du das?«, ich spürte, wie Tränen in mir brodelten und dass es nicht lange dauern würde, bis ich meinen Kopf vornüber an die Schulter meines Vaters pressen würde, um ihnen freien Lauf zu lassen. Er knallte mir gerade die Wahrheit entgegen. Mein Vater war schon immer ehrlich und sagte mir auch Dinge, die mich und meine Meinung eventuell nicht unterstützten, doch auf diese Art und Weise hatte er mir all das noch nicht gesagt. Es war anders als sonst. Der ganze Tag heute war anders als sonst. Es schien fast, als hätte mein Leben nur auf diesen Tag gewartete, auf meinen Dad der bei mir war, auf Oli der auf uns traf und auf die Ansage, die mein Vater mir gerade machte.
»Ich meine, dass du endlich mit dem aufhören sollst, das dich nicht für immer glücklich machen kann. Ein Oli kann dich nicht bis ganz tief da drinnen glücklich machen, weil er nur an der Oberfläche kratzt. Du musst den Menschen an dich ran lassen, der unter die Oberfläche gucken kann und der dich in der Tiefe berühren kann und verdammt, Livi, das ist Basti. Ihr beide wart euch so nah und ihr seid es immer noch, das spürt man. Auch wenn er nicht in deiner Nähe ist, spürt man dass du fast nach ihm schreist. In deinen Augen fehlt der Blick, den du sonst immer hattest, wenn du von ihm erzählt hast oder als er bei dir war. Liv, es ist Zeit vergangen, er hat die Beziehung zu Sarah beendet und das war ein Schritt von ihm in die Richtung. In eure Richtung.«, mein Vater wartete ein paar Sekunden ehe er anfing zu atmen und seine Hand auf meine Wange legte, um meinen Kopf zu heben. »Du liebst ihn und du brauchst ihn. Mach nicht den Fehler und lass das Gute an dir vorüberziehen.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Mein Grübeln, das ich vor wenigen Stunden begonnen hatte, hatte nun seinen Höhepunkt erreicht. Es war falsch, was ich tat. Ich wusste es, ich hatte es all die Zeit gewusst, und trotzdem wollte ich es nicht zulassen. Ich wollte mir nicht selbst eingestehen, dass ich wieder einen Fehler gemacht hatte und dass ich einem Menschen verfallen war. Ich war Bastian verfallen und das musste ich mir endlich eingestehen. Ich musste Oli gehen lassen, weil er mir auf Dauer nicht gut tun würde. Er würde mich für den Moment glücklich machen, aber ich wollte nicht nur auf den Moment schauen. Ich musste schauen, ob er mich morgen und übermorgen, in guten und schlechten Zeiten, glücklich machen konnte. Ich musste schauen, ob er wirklich der Mann war, neben dem ich auch aufwachen wollte, wenn die Nacht nicht im Alkohol getränkt war.
Ich hatte all das gewusst, doch ich brauchte wieder einmal meinen Vater, der es mir direkt vor Augen führte. Ich brauchte meinen Vater, diesen weisen Menschen, der wusste, was gut für mich war. Und der mich besser kannte als ich mich selbst.  

Nichts tut für immer wehWo Geschichten leben. Entdecke jetzt