»Einen Moment nur ein Stück Wir.«

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Ich wusste nicht wie lange ich auf dem Klodeckel der Toilette gesessen hatte, nachdem ich vor Basti geflüchtet war. Ich war aus der Situation geflohen, weil sie mir zu tiefgründig wurde und weil Basti einfach eine Spur zu ehrlich war. Ich konnte mir denken, dass es ihm im Moment nicht sonderbar gut ging, weil er sich von Sarah getrennt hatte und.. und ich weiß nicht - aber genau das musste er mir nicht im zweiten Satz unseres ersten Gespräches nach Monaten unter die Nase reiben. Ich wollte einfach nicht wissen, was ihn bewegte, was ihn berührte und was in ihm vorging, weil er mir im Moment noch viel zu entfernt war. Er war noch so weit weg, er war noch viel zu viel Basti, der mir mein Herz gebrochen hatte, als dass ich mich mit ihm auf solch einer Ebene unterhalten könnte. Ich brauchte Zeit, das musste alles langsam gehen und vor allem durfte es nicht binnen weniger Sekunden so unglaublich tiefgründig werden, dass ich Angst hatte, von Gefühlen erschlagen zu werden. Es war zwar nur ein einfaches »Nicht so gut«, doch trotzdem brachte es mich an einen Punkt, den ich nicht überschreiten wollte.
Mein Handy lag in meiner Hand, ich las Nachrichten von Oli und überlegte fieberhaft, ob es der richtige Schachzug wäre, ihm zu schreiben. Ich war wirr im Kopf und konnte Ablenkung brauchen, doch eigentlich hatte ich mir doch geschworen, mich endlich der Sache zu stellen, oder? Eigentlich wollte ich doch nicht mehr das verdrängen, was einfach viel zu präsent war und auf Dauer immer präsenter wurde. Die Zeit heilt keine Wunden - zumindest nicht, solange man sich nicht mit ihnen auseinander setzt.
»Liv?«, Lisas stimme ertönte fast nur flüsternd und ließ mich trotzdem zusammenzucken. Sofort stopfte ich hektisch mein Handy zurück in meinen Rucksack und entschied mich automatisch dazu, dass es jetzt, in diesem Moment, nicht richtig war einfach abzuhauen. Jetzt war Lisa hier und ich sollte mit ihr reden. Mein Gott, ich musste doch einfach nur mal vernünftig werden und mich vernünftig mit Dingen auseinander setzen, die mich beschäftigten.
»Ja, hier.«, fast schon außer Atem stürmte ich aus der Kabine, schulterte meinen Rucksack und stopfte meine Jacke zwischen meine Beine, um vernünftig meine Hände waschen zu können.
»Ich habe dich überall gesucht, Mensch.«, sorgenvoll betrachtete meine Freundin mich durch den Spiegel während sie hinter mir stand.
»Sorry, aber ich musste einfach so dringend auf die Toilette, das Bier-«
»Lüg mich nicht an.«, ihre Miene versteinerte sich fast und ich hatte Angst, dass ihr Blick eine solche Kraft hatte, dass der Spiegel, durch den sie noch immer auf mich sah, im nächsten Moment zerbrechen würde. Ich seufzte stark, warf das Papier zum Händetrocknen in den Müll und drehte mich zu ihr um.
»Basti stand vor mir und hat mir offenbart, dass es ihm im Moment nicht so gut geht.«, gestand ich Lisa und runzelte im nächsten Moment schon meine Stirn. Sobald ich die Worte ausgesprochen hatte, klangen sie selbst für mich so absurd und kindisch, dass ich mir am liebsten verzweifelt gegen die Stirn geschlagen hätte.
»Du willst es nicht wissen?«, schlussfolgerte sie. Ich war froh, dass sie nicht in ein Lachen verfiel, sondern ernst blieb.
»Nein, das ist mir zu früh.«, ich senkte meinen Blick für einen Moment, um ihn im nächsten Moment wieder zu heben. »Ist das dämlich?«
»Nein, Liv.«, augenblicklich war Lisas harte Miene verflogen und sie lächelte mich sanft an als sie vor mich trat und ihre Hände auf meine Schulter legte. »Ich finde es schön, dass ihr euch anscheinend doch ein Stück weit unterhalten habt.«
»Lisa, wir haben drei Sätze miteinander gewechselt und dann habe ich einen Abgang gemacht und ihm klar gemacht, dass er derjenige ist, der meine letzten Monate beeinflusst hat.«, ich verzog meine Miene ins Weinerliche und hätte genau das im nächsten Moment am liebsten getan.
»Du bist ganz schön durcheinander, was?«, sie sah mich mit diesem mütterlichen Blick an, weswegen ich mich für einen Moment ganz kurz und vor allem akribisch auf meine Schminke achtend, gegen ihre Brust lehnte.
»Ich will mit ihm sprechen, aber nicht über.. über so etwas, weißt du?«
»Aber wenn du wegläufst kann er ja nicht wissen, dass du es langsam angehen lassen willst, oder?«, Lisa musterte mich und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Er steht immer noch mit Thomas an der Bar und hat sich in der letzten halben Stunde, die du jetzt verschwunden warst, ungefähr alle zwanzig Sekunden umgedreht um zu schauen wo du steckst.«
»Wieso ist das nur so ein unglaublicher Dickschädel?«, murmelte ich und dachte augenblicklich an Brasilien zurück. Er war immer dran geblieben und auch wenn ich zickig war, das Ritual am Morgen nicht mehr aufnehmen wollte, blieb er standhaft und sorgte im Endeffekt dafür, dass wir doch jeden Morgen zusammen am Strand saßen und über Gott und die Welt redeten. Im Endeffekt hatte ich mich auch in diese Hartnäckigkeit verliebt.
»Was sagt dir dein Herz?«, hakte Lisa noch einmal nach und hob mit ihrem Finger unter meinem Kinn langsam meinen Kopf.
»Mein Herz?«, ich lachte auf und sah sie mit verzweifeltem Gesicht an. »Geh zu ihm, umarm ihn, küss ihn, halt ihn, sag ihm, dass es dir leid tut.«
»Aber dein Verstand und diese große Mauer, die du dir um dein Herz gebaut hast, halten dich auf, stimmt's?«
»Ja.«, nickte ich fast schon verlegen und hatte augenblicklich Mitleid, dass sie sich mit mir rumkämpfen musste. »Ich bin so schwierig und kompliziert.«
»Was hältst du davon, wenn wir zurückgehen und du einfach schaust, was die Situation bringt? Vielleicht reden wir alle zusammen, tanzen und trinken was. Aber vielleicht bittet er dich auch raus und ihr redet ganz normal und unbefangen und.. und er kann dir zeigen, dass da noch viel mehr von dem Basti ist, der dir mal ganz viel gegeben hat.«, Lisa strich mir leicht über meinen Oberarm und wir zuckten zusammen als die Tür zum Flur hinaus mit einem Klacken geöffnet wurde. Wir lächelten die Person freundlich an. Es war klar, dass unser Gespräch auf der Stelle beendet war, weil man nie wusste, wer sich unter dem Kostüm versteckte und Lust auf irgendwelche Gerüchte, die die ganze Sache noch mehr durcheinander brachten, hatte ich absolut nicht.
»Du gehst vor!«, bestand ich letztendlich nur noch und grinste Lisa an.

Ich konnte kaum glauben, dass ich wirklich hier stand. Der Cowboy hatte sich als Bastis Bruder Tobias vorgestellt, das Bier in meinen Händen war mittlerweile mein fünftes und die Stimmung war gut. Anfangs hatte ich mich zurückgehalten, stand so weit von Basti entfernt wie es nur ging und nippte nur verhalten an meinem Bier. Ich wusste nicht wie ich all das einschätzen, geschweige denn wie ich mich verhalten sollte und dachte mir, dass man mit Zurückhaltung nie etwas falsch machen konnte. Alle unterhielten sich ganz normal, Lisa und ich führten zwischenzeitlich unsere eigenen Gespräche und trotz dessen, dass ich Basti in meiner Nähe wusste, wurde ich von Minute zu Minute lockerer. Vielleicht gewöhnte ich mich an die Tatsache, vielleicht vergaß ich zwischenzeitlich was das eigentlich bedeutete und vielleicht hatte ich auch genug getrunken, aber im Endeffekt war ich froh, dass ich hier stand und er in meiner Nähe war. Es war ein kleiner Schritt und das ganze würde wahrscheinlich nur langsam und schleppend vorangehen, aber dass ich diesen Schritt nach meinem halbstündigen Aufenthalt in einer Toilettenkabine überhaupt gegangen war, erstaunte mich fast. An Oli dachte ich nicht mehr und wenn ich im Nachhinein darüber nachdachte, brauchte ich ihn einfach nicht, weil ich alles hatte, was mir irgendwie wichtiger war als oberflächliche Ablenkung. Außerdem.. brauchte ich keine Ablenkung.
»Liv?«, ich zuckte aus meinen Gedanken zurück und erschreckte, als Basti plötzlich neben mir stand und mich abwartend ansah.
»Hm?«, verdutzt sah ich ihn an und spürte, wie ich langsam immer mehr zurück in die Realität wich. Sein Anblick und die Tatsache, dass er mich ganz locker ansprach, kam mir so unendlich realitätsfern vor, dass ich es kaum fassen konnte. Er war hier, vor mir, lächelte mich an. Er war mir so nah und trotzdem so fern. Er stand vor mir und am liebsten hätte ich meinen Arm nach ihm ausgestreckt um ihn zu berühren.
»Du träumst zu viel.«, er lachte leicht und ich konnte unter seiner Maske erkennen, dass seine Augen funkelten. Irgendwie passte die Magie, die seine Augen in diesem Moment ausstrahlten unglaublich zu seinem Outfit. Unter der Maske und dem Hut schien er einfach nur geheimnisvoll. So geheimnisvoll, dass ich ihn anfangs wirklich nicht erkannt hatte.
»Sorry, was hast du gesagt?«, ich schüttelte kurz meinen Kopf und sah ihn danach aufmerksam an.
»Ich hab gefragt, ob du vielleicht mit rauskommen möchtest. Ich brauche unbedingt frische Luft, und.. «, er brach kurz ab und schüttelte seinen Kopf. Ich dachte, dass er seinen Satz beenden würde, doch er ließ ihn so in der Luft hängen.
»Ähm.. «, ich sah mich hilfesuchend um und streifte Lisas Blick. Sie lächelte und nickte, ihre Lippen formten ein tonloses [i]Lass es zu[/i] und ich wusste, dass sie recht damit hatte. Es musste einen Anfang geben und diesen Anfang bot Basti mir in diesem Moment. »Klar, warum nicht?«
Die Erleichterung schien ihm ins Gesicht geschrieben zu sein und er lächelte mich breit an, als er sich zur Seite drehte und mir den Vortritt ließ. Im Vorbeigehen drückte ich Lisa einen Kuss als Dank auf die Wange und ging mit fast zitternden Beinen durch die Menschenmenge und zu einem hinteren Ausgang, der in den Außenbereich führte. Kaum ein Mensch war hier zu sehen, was mich in diesem Moment nervös und froh gleichzeitig machte.
»Komm, setzen wir uns hier hin.«, Basti deutete auf eine Bank in der hintersten Ecke des Bereichs. »Wenn man rauskommt merkt man erst wie unendlich stickig es dort drin ist.«
»Stimmt.«, gab ich zu und lehnte mich unbeholfen zurück. Meine Jacke hatte ich über meine Beine gelegt und den Rucksack in meinen Schoß gestellt. Gedankenverloren fing ich an, nach der Zigarettenschachtel und dem Feuerzeug zu suchen. Irgendwie musste ich die Nervosität, die sich immer mehr, je länger ich hier alleine Mit Basti saß, unterdrücken.
»Seit wann rauchst du?«, Basti schielte mich fast geschockt an, als ich mir eine Zigarette zwischen die Lippen steckte und kräftig dran zog als sie entzündete.
»Ich, ehm.. «, mir fiel ein, dass er mich nicht rauchend kannte und irgendwie war es mir urplötzlich peinlich und unangenehm ihm zu zeigen, was die letzten Monaten aus mir gemacht hatten. Es war mir unangenehm ihm zu zeigen, dass ich so schwach war, dass ich meinen Stress und all das, was in mir herrschte und tobte, mit Zigaretten kompensieren musste. »eigentlich rauch ich gar nicht. Blöd.«, ich schüttelte den Kopf, sah kurz auf den glühenden Stängel und warf ihn vor mir auf den Boden, um ihn mit den Füßen auszudrücken. Sofort spürte ich, wie ich rot wurde und wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken. Was passierte hier denn bitte grade?
»Wie läuft dein Studium?«, fragte er mit einer Leichtigkeit in der Stimme und überging meine peinliche Aktion. Ich war ihm unendlich dankbar, dass er nicht lachte und mir zu verstehen gab, dass es völlig egal war, wie peinlich ich mich hier eigentlich verhielt.
»Ganz gut, denke ich. Ich habe im Moment erstmal frei und muss nur eine Hausarbeit schreiben.«, erzählte ich ihm. Augenblicklich wurde mir klar, dass er mich gefragt hatte, [i]wie[/i] mein Studium lief. Er hatte nicht gefragt, was mich nach München verschlagen und ob ich die Zusage für ein Studium wirklich in der Tasche hatte. Er wusste anscheinend, was ich grade trieb und genau das jagte mir eine Gänsehaut über den Körper. Es war nicht kalt und trotzdem hatte ich das Gefühl zu frösteln. Er hatte sich bei Thomas über mich informiert und wahrscheinlich wusste er mehr, als mir lieb war.
»Ich hab mich für dich gefreut, als-«, er hielt inne und erwischte sich selbst dabei, dass er etwas ausplauderte, was er eigentlich für sich behalten wollte. Für einen kurzen Moment sah ich ihn musternd an und hoffte, dass er weitersprechen würde – auch wenn ich wahrscheinlich eh wusste, was er sagen würde -, doch er sah einfach verlegen auf den Hut, den er inzwischen in seinen Händen hielt.
»Schon okay.«, kam ich ihm zur Hilfe. Ich konnte nicht anders. Eigentlich wäre ich womöglich ausgerastet und hätte ihn gefragt was ihm nur einfallen würde, doch seine Art, wie er so hilflos neben mir saß, sich selbst ertappt hatte und mir doch in diesem Moment absolut nichts Böses wollte, ließ mich einfach anders denken. Wahrscheinlich ließ mich all das in diesem Moment einfach gar nicht mehr denken – schließlich würde ich sonst gar nicht erst hier sitzen. »Ich bin froh, dass du mich dazu gebracht hast, mich hier zu bewerben.«
Ein Lächeln umspielte seine Lippen und sein hilfloser Blick war augenblicklich verschwunden. Ich erschreckte fast selbst vor mir, schob dieses Gefühl aber beiseite, weil ich all das andere viel zu sehr genoss. Ich hatte das Gefühl ein paar Monate in Richtung Vergangenheit gereist zu sein und das fühlte sich so verboten gut an. Ich wollte nichts davon wissen, was eigentlich zwischen uns stand – zumindest nicht für diesen Moment. Einen Moment ohne Zweifel. Einen Moment ohne Schmerz. Einen Moment ohne Enttäuschung. Einen Moment nur ein Stück Wir.
»Ich-«, fing Basti an die Stille zu durchbrechen, die sich zwischen uns gelegt hatte.
»Pssst.. «, sagte ich nur und machte ihm deutlich, dass ich den Moment der Stille, hier mit ihm, mit der lauten Musik und dem Gerede der Menschen im Hintergrund, einfach nur genießen wollte. Ich wollte nicht viel reden, weil ich es nicht für den passenden Moment empfand. Ich wollte nicht reden, weil ich Angst hatte, dass es zu tiefgründig wurde und in eine Richtung ging, die mir Angst machte. Ich wollte lernen mit seiner Nähe klarzukommen und damit, dass er mir wieder näher war. Ich wollte lernen wieder neben ihm zu sitzen ohne dass mein Herz erneut in tausend Teile sprang. Ich wollte einfach lernen wieder mehr von dem Basti zu erkennen, der er bei unserem Kennenlernen war.  

Nichts tut für immer wehWo Geschichten leben. Entdecke jetzt