»Basti war Medizin.«

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  »Du bist echt der neugierigste Mensch der Welt, Thomas.«, ich lachte lauthals, als ich mit dem Handy am Ohr umständlich versuchte mein Geschirr vom Frühstück abzutrocknen. »Hat Lisa dir nicht schon alles haargenau erzählt?«
»Ich war heute morgen schon weg als du ihr geschrieben hast.«, seufzte er schwer.
»Dann hat Basti dir doch beim Training sicher was erzählt?«, ich runzelte meine Stirn. Eigentlich war es doch nicht meine Aufgabe Thomas von unserem Treffen am Vortrag zu berichten. Zwar waren Thomas und ich in den letzten Monaten wirklich zusammengewachsen und ich konnte auch behaupten, dass er einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben war, doch Basti war immer noch sein bester Freund und wenn es darum ging, irgendwelche Neuigkeiten zu verbreiten, war allemal Basti am Zuge.
»Der war so schnell duschen und dann auch schon weg, da konnte ich ihn eben gar nicht mehr abfangen.«, nörgelte Thomas. Ich konnte das Knallen einer Tür hören, kurz darauf das Starten des Motors. »Wenn ich jetzt nicht zu Lisa in den Stall müsste, würde ich in zehn Minuten vor deiner Tür stehen – das ist dir hoffentlich klar?«
»Ich weiß, mein Guter.«, mein Grinsen wurde immer breiter und auch wenn ich absolut genervt davon war, dass ich den Rest des Tages mit dutzenden von Büchern für die Uni verbringen musste, konnte der Fakt, dass ich gestern ein schönes Treffen mit Basti hatte, meiner Laune keinen Knacks verleihen. Wir waren gestern noch lange auf dem Dach geblieben, hatten uns wenig unterhalten, sondern viel mehr geschwiegen und die Stille genossen – so wie wir es auch am Morgen am Strand in Brasilien getan hatten. Als es uns zu kalt wurde, waren wir in sein Auto gestiegen und durch München gefahren. Wir hatten kein Ziel und hofften womöglich beide innerlich, dass der Tank des Autos nie leer und die Nacht nie zu Ende gehen würde. Doch als wir an einer großen digitalen Uhr vor einer Sparkasse vorbei fuhren, wussten wir, dass die Nacht für uns hier zu Ende war. Es war fast ein Uhr, die Stadt wie leergefegt und wir beide müde – auch wenn wir es nicht wahrhaben wollten und es noch stundenlang hätten ignorieren können.
»Also?«, riss Thomas mich irgendwann aus meinen Gedanken. Ich sog scharf Luft ein, als ich bemerkte, dass ich absolut abgedriftet war. Basti hatte es einfach geschafft meine Gedanken wieder so sehr einzunehmen, dass alles um mich herum so vergessen und unnötig schien.
»Sorry.«, trotzdem konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Frag später Lisa einfach. Oder ich komme heute Abend bei euch vorbei.«
»Ich hole dich nach dem Training heute Abend ab und dann essen wir bei uns was.«, legte Thomas meine Abendplanung einfach fest. »Und komm bloß nicht auf die Idee abzusagen oder nicht aufzumachen. Wenn es sein muss, ruf ich den Schlüsseldienst, damit ich rein komme.«
»Schon klar, Thomas.«, lachte ich auf und schüttelte den Kopf. »Du musst Autofahren und dich konzentrieren, lass uns auflegen.«
»Ich habe eine Freisprechanlage.«, widersprach er genervt.
»Eigentlich wollt ich dich auch nur loswerden.«, kicherte ich. »Wir sehen uns heute Abend, ja?«
»Bis dann Livileini.«
Und schon war ein Knacken mit einem darauffolgenden Tuten zu hören. Dass er sich so schnell geschlagen gab, wunderte mich fast. Eigentlich machte es mich schon nahezu stolz, weil einiges dazugehörte, einen Thomas Müller binnen von Minuten zu überzeugen.
Grinsend und kopfschüttelnd gleichzeitig legte ich mein Handy auf den Küchentisch und trocknete das restliche Geschirr ab. Nicht einmal das machte mir etwas aus. Nichts konnte mich heute derart aus der Ruhe bringen. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich in einer Blase gefangen, die mich mit ganz viel Glück umgab und mich von all den bösen Dingen, die um mich herum passierten, abschirmte und beschützte. Und die Blase trug dann womöglich den Namen Bastian.
Kaum hatte ich das Handtuch zum Trocknen über die Heizung gelegt, klingelte es an meiner Wohnungstür. Fünf Minuten waren seit dem Telefonat mit Thomas vergangen und für einen Moment hatte ich das Gefühl, dass er beim Öffnen der Tür völlig aufgekratzt vor mir stehen würde. Bei dem Gedanken daran entlockte es mir ein Lachen und ich ging hüpfend an die Gegensprechanlage.
»Thomas, wir waren heute Abend verabredet.«, lachte ich in den Hörer.
»Dann hast du jetzt also noch Zeit?!«, ich zuckte zusammen als mir nicht Thomas' Stimme entgegen hallte und schlug mir fast reflexartig die Hand vor meinen Mund, um keinen Freudenschrei auszustoßen.
»Ich.. ehm, klar.«, stotterte ich mehr schlecht als recht und ließ meine Hand von meinem Mund zu meiner Stirn wandern, um mir lautlos gegen zu hauen. Wie benahm ich mich denn schon wieder? Mein Körper reagierte jedenfalls noch ähnlich auf Basti – so viel hatte sich über die Monate anscheinend nicht geändert. Ich konnte nicht sagen, dass all die Gefühle die gleichen intensiven wie damals in Brasilien waren, doch ich fühlte mich zu ihm hingezogen und seine Anwesenheit machte etwas mit mir, das mir bekannt vorkam.
»Komm runter, ich warte auf dich.«, ich konnte hören, wie sich sein Mund zu einem Lächeln verzog und knallte im nächsten Moment schon den Hörer auf. Kurz stand ich mitten im Flur, brauchte meine paar Sekunden um zu verstehen, dass das hier wirklich passierte, nur ein wenig ungewohnt war, und realisierte im nächsten Moment schon, dass ich in Jogginghose, Sweater und barfuß unterwegs war. Ein kleiner Flug von Panik überkam mich. Ich konnte mich so keineswegs zeigen. Zwar kannte Basti mich so, wie ich war, an guten und an schlechten Tagen, doch das hier war ein Treffen, das mir viel bedeutete und ich wollte schön aussehen. Für ihn. Und für mich, damit ich mich wohler fühlte.
Sofort rannte ich in mein Schlafzimmer, zog die ausgewaschene schwarze Hose über, dazu einen weißen Pullover und meine Oversize Jeansjacke drüber. Im Flur schlüpfte ich in meine schwarzen Asics, schnappte meinen Jutebeutel und stürmte aus der Wohnung. Während ich die Treppen runter stieg, löste ich meinen Dutt, schüttelte meine Haare, sodass sie locker über meinen Schultern lagen und wischte mit meinen Fingern unter meinen Augen entlang, um verschmierte Wimperntusche zu entfernen. Ich wusste, dass ich nicht wie aus dem Ei gepellt aussah, doch ich hatte keine Zeit, um den Zustand, in dem ich mich gerade befand, deutlich zu verbessern. Und wohler als in Jogginghose und Sweater und dem unordentlichen Dutt auf meinem Kopf fühlte ich mich allemal.
Unten angekommen, zog ich langsam die Tür auf und schielte vorsichtig den Bürgersteig hoch und runter. Basti stand zwei Autos weiter die Straße herunter an seinem Audi gelehnt. Seine Cap hing ihm tief im Gesicht und an seinem Körper hing sein Trainingsanzug. Ich musste grinsen, weil mir klar wurde, weswegen Thomas ihn nicht mehr erwischt hatte: Er war tatsächlich so schnell nach dem Training in seine Mittagspause geflohen, um genau jetzt mit verschränkten Armen ganz lässig am Auto gelehnt vor meinem Haus zu stehen.
»Hey.«, ich lächelte und spürte, wie meine Beine mit jedem Schritt in seine Richtung zittriger wurden. Mein Herz schlug auf einmal so unendlich schnell, meine Hände wurden feucht und das Grinsen in meinem Gesicht war kaum noch wegzudenken. Hier passierte gerade einiges in mir.
»Hey Liv.«, er grinste mich an als er sich leicht mit seinem Hinterteil vom Auto abstieß und seine Arme für eine Umarmung öffnete. Der Fakt, dass wir uns für länger als ein paar Sekunden hielten und die Umarmung mehr war als die zwischen zwei Freunden, jagte mir eine Gänsehaut über meinen Körper. Es fühlte sich so fremd und ungewohnt, doch trotzdem so unendlich gut an. Ich hätte Ewigkeiten so dastehen können, weil ich das Gefühl hatte, dass ich all die Nähe aus den letzten Monaten aufholen musste. Ich hatte das Gefühl, dass ich meinen Basti-Tank wieder füllen musste, um die nächsten Wochen auch überstehen zu können, wenn wir uns nicht regelmäßig sahen.
»Was hast du vor?«, lächelte ich ihn breit an, als wir uns aus der Umarmung lösten und er mir die Beifahrertür aufhielt.
»Ich habe drei Stunden Zeit und Mittagspause.«, sagte er noch, ehe er die Tür zuschlug und um das Auto herumging, um sich hinter das Steuer zu setzen. »Was hältst du davon, wenn wir uns was zu essen holen?«
»Gerne, ich hatte rein zufällig auch noch kein Mittagessen.«, stimmte ich zu und dachte daran, dass ich gerade erst mein Geschirr vom Frühstück gespült hatte. »Sollen wir dann wieder zurück zur Säbener fahren und die Stille genießen?«
»Ich hatte gehofft, dass du das fragst.«, Basti sah mich lächelnd an und fing mich mit seinem Blick plötzlich so sehr auf, dass die Zeit im Auto abrupt stehen blieb. Ich spürte, wie mein Herz schlug und sich automatisch entspannte. Ich hatte das Gefühl, dass all die Monate und die Wochen des Weinens und des Schmerzes gar nicht da gewesen waren. Ich hatte das Gefühl, dass wir erst gestern aus Brasilien zurück gekehrt waren und nun dort weitermachten, wo wir auf einem anderen Kontinent aufgehört hatten. Wären all diese negativen Ereignisse nicht gewesen, dann hätte man meinen können, dass wir die glücklichste Zeit hinter und längst noch vor uns hatten. Wir hatten keine glückliche Zeit hinter uns, aber ich hoffte, dass sie dafür umso schöner vor uns lag.

Ich verschlang meine Pizza schon fast, nachdem ich meinen Karton aufgeklappt hatte. Es war November und trotzdem unendlich warm für diesen Monat, in dem eigentlich schon eisige Temperaturen herrschen mussten. Die Sonne stand tief, blendete uns während wir von dem Dach des Gebäudes über das Trainingsgelände sahen und trotzdem freuten wir uns, weil sie es uns ermöglichte, Bastis restliche Mittagspause hier oben zu verbringen.
»Sag mal, darfst du überhaupt so fettiges Zeug essen? Ich dachte immer, dass ihr hier auch einen Koch habt.«, ich schielte zu Basti, der seine Pizza sichtlich zu genießen schien.
»Wir haben Ernährungspläne und es gibt auch die Möglichkeit hier etwas zu essen. Aber Ausnahmen bestätigen nun mal die Regel. Dann geh ich heute nach dem Training eben eine doppelte Runde im Gym trainieren.«, er lächelte vollkommen zufrieden und überzeugt von seinem Plan, als ich anfing zu lachen und er mich sofort fragend ansah.
»Gym! Basti, das sagen die Möchtegern-Pumper, die regelmäßig ihre komischen Shakes trinken, um irgendwann völlig wie Bodybuilder auszusehen.«
»Ich weiß auch ehrlich gesagt gar nicht, wieso ich das Wort in meinen Mund genommen habe.«, stimmte er grinsend zu und nahm das nächste Stück Pizza in die Hand.
»Genau, nimm lieber noch ein Stück Pizza in den Mund, damit sich die Gym-Runde heute Abend auch lohnt.«, gackerte ich und biss im nächsten Moment das nächste Stück ab. Mit Bastis Anwesenheit und dieser unbeschwerten und lockeren Stimmung schmeckte die Pizza doppelt so gut. Manchmal, wenn wir schwiegen und einfach aßen und die Stille genossen, musste ich zu Basti schielen, weil ich es nicht glauben konnte. Ich konnte nicht glauben, dass ich es geschafft hatte, meine Gefühle so weit in den Griff zu bekommen, um hier mit Basti zu sitzen. Ich war über meinen eigenen Schatten gesprungen, ich hatte ihm eine Chance gegeben und ihn trotz allem, was passiert war, trotz all der Schmerzen, die ich hatte, kontaktiert. Wir saßen hier und näherten uns wieder an, obwohl ich selbst vor einer Woche noch gedacht hätte, niemals wieder auch nur ansatzweise Kontakt mit ihm zu haben. Und auch, wenn es erst der zweite Tag war, an dem ich seine Nähe spüren und genießen durfte, merkte ich schon jetzt, wie unendlich gut sie mir tat – wie unendlich gut Basti mir tat. Ich hatte das Gefühl, dass alles nur gut werden konnte.
»Liv? Hey.«, Basti wedelte mit seiner freien Hand vor meinem Gesicht herum. Ich schreckte hoch, war mal wieder viel zu sehr in Gedanken versunken, und sah ihn verwirrt an. Ich wollte das ganze Schöne doch einfach nur weiterdenken.
»Dein Handy geht.«
»Oh.«, ich schmiss mein Pizzastück unsanft zurück in den Karton, klatschte meine Hände aneinander, um übrige Krümel loszuwerden, und griff dann in meine Jackentasche. Meine Lautstärke war fast auf die lauteste Stufe gestellt, weswegen ich mich wunderte, dass ich so tief in Gedanken versunken war, dass ich nicht einmal das hörte. Doch als ich auf mein Display sah, wünschte ich mir, dass auch Basti es überhört hätte. Sofort sperrte ich den Bildschirm und ignorierte den Anruf. Ich fühlte mich plötzlich wie gelähmt und wäre am liebsten weggelaufen. Davor, dass eben nicht alles toll war. Dieser Anruf von Oli hatte mir nämlich gezeigt, dass ich seit 24 Stunden meine rosarote Brille aufhatte und all das um mich herum ignorierte, was gerade nicht in mein Leben passte. Oli passte gerade nicht in mein Leben, weil Basti da war. Oli hatte nur in mein Leben gepasst, als es Basti nicht mehr gab, als mir so viel fehlte, als mir so viel so sehr wehtat und als ich all das einfach nur verdrängen und überspielen wollte. Ich hatte zwei verschiedene Leben, eins mit dem Schmerz und der Tatsache, dass ich Basti verloren hatte und eins mit Oli und der Tatsache, dass ich Basti durch ihn zu verdrängen versuchte. Und diese beiden Leben ließen sich nicht vereinbaren. Ich mochte Oli als Mensch, er war wirklich ein guter und lieber Mensch, doch ich konnte nichts aufs Spiel setzen, was das, was sich gerade zwischen Basti und mir aufbaute, gefährden könnte. Aber erstmal musste das Wegdrücken herhalten. Eine Erklärung konnte es später immer noch geben.
»Warum gehst du nicht dran?«, verwundert sah Basti mich mit einem Bissen Pizza im Mund an. Selbst in diesem Moment war er schön. Und dass er mir ausgerechnet diese Frage stellte, hatte wohl oder übel mit dem Schicksal zu tun.
»Der Zeitpunkt ist nicht gerade passend.«, gab ich zu und Basti somit eine Hilfe zu erraten wer am anderen Ende der Leitung war.
»Du magst ihn, oder?«, es klang so belanglos, dass ich ein wenig brauchte um zu verstehen, was er mich gerade gefragt hatte.
»Ja, ich mag ihn. Aber ich mag ihn nicht so. Weißt du, er ist ein netter Kerl, mit dem kann man echt Pferde stehlen, aber mehr nicht.«, ich wunderte mich, dass ich Basti gegenüber so offen war und fühlte mich gleichzeitig gut und komisch dabei. Wir sprachen hier über einen anderen Mann in meinem Leben, mit dem ich intimste Dinge teilte.
»Vielleicht solltest du ihm das sagen.«, sagte Basti. Ich merkte, wie er versuchte das ganze runter zu spielen. Er wollte dem Ganzen kaum Bedeutung schenken und trotzdem triefte er fast vor Eifersucht. Ich sah es ihm an, ich konnte es aus seiner Stimme heraushören. Ich kannte ihn noch immer.
»Ja, das sollte ich.«, erwiderte ich einfach nur. Ich wusste, dass ich es ihm sagen musste und ich wusste auch, dass ich das nicht Ewigkeiten vor mich her schieben konnte. Ich wusste eigentlich auch, dass es nicht nur damit getan war. Vielmehr musste ich ihm doch sagen, dass das so nicht weitergehen würde. Und dann würde uns allen klar und vor Augen geführt werden, dass Oli reiner Zeitvertreib und reine schlechte Medizin war. Denn diese Art von Medizin hatte nur betäubt und nichts geheilt.
»Lass uns die zwei Stunden noch genießen und lass uns über was anderes reden, okay?«, Bastis Lächeln fing mich so schnell wieder ein wie Olis Anruf mich aus dem Konzept gebracht hatte. Sofort steckte er mich an und meine Mundwinkel zogen sich nach oben. Er machte etwas mit mir, was kein anderer schaffte und ich hätte nie gedacht, dass mir die ersten Stunden in seiner Gegenwart so unendlich leicht fallen würden. Ich fühlte mich so frei und leicht und mein Herz lächelte. Basti war Medizin. Und nicht die Art von Medizin, die betäubte, sondern die Art von Medizin, die so unendlich gut heilte.  

Nichts tut für immer wehWo Geschichten leben. Entdecke jetzt