Gone Forever

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And perhaps
there is a limit to the grieving
that the human heart can do
('The Little Stranger' – Sarah Waters)

Manchmal geschehen Dinge im Leben, die wir nicht verstehen. Oft ist es nichtmal die Sache an sich, die uns so sprachlos lässt, viel mehr sind es die Umstände, die unbeantworteten Fragen nach dem Wieso und dem Warum. Und selbst wenn wir eine Antwort auf diese Fragen bekommen, wenn unser Verstand ihre Logik begreift, nicht selten bleibt unser Herz dennoch unbefriedigt. Das liegt daran, dass dieser Planet nicht so einfach gestrickt ist wie viele Wissenschaftler gerne behaupten. Das Herz eines Menschen ist und bleibt eine nie ganz zu begreifende Angelegenheit. Unser Herz neigt dazu sich in Verständnislosigkeit zu verlieren. Vielleicht, weil es sonst so viel realer werden würde.

Nur so konnte ich meine jetzige Lage am besten beschreiben, auch wenn selbst sie sie nicht ganz traf. Ich weiß nicht, wie ich ausdrücken könnte, was ich an diesem Tag fühlte, nachdem Mario mir seine Gefühle mehr oder weniger gestanden hatte und ich ihm so gerne die richtige Reaktion hätte geben wollen. Ich wollte ihn ja auch, hatte ihn immer gewollt. Doch zu behaupten, wenn mein Handy nicht geklingelt hätte, ich doch den Mut dazu gefunden hätte, wäre nicht die Wahrheit. So war ich nun mal nicht. Ich war zu verloren und zu verängstigt gefunden zu werden. Machte das Sinn? Vermutlich nicht. Aber das spielte auch gar keine Rolle mehr, denn mein Handy hatte geklingelt.

Die Polizei war es gewesen. Meine Nachbarin hatte sie benachrichtigt. Dass er bei ihr angerufen und eine besorgniserregende Nachricht auf dem AB hinterlassen hatte. Die alte Frau war so schnell wie sie konnte nach oben zu unserer Wohnung gelaufen und hatte geklingelt. Mehrere Male. Doch es war zu spät, genauso wie wohl von ihm geplant. Aufgelöst hatte die alte Frau Schnäbel also die Polizei benachrichtigt und ihnen meine Nummer gegeben.

Sie bestellten mich her, sofort, es sei dringend. Es bestünde der Verdacht, dass mein Vater...nein, ich konnte es noch nicht aussprechen.
Mario hatte es gemerkt, denn alles zwischen uns, den Schmerz, den ich ihm mit meiner Abfuhr zugeteilt hatte, schien wie vergessen zu sein, er sagte nur, er würde mich sofort nach Hause fahren. Ja und dann hatte er mich zu dem Haus gefahren, das ich hasste. Die ganze Fahrt über sprachen wir kein Wort. Das Polizeiauto stand bereits da. Frau Schnäbel sprach mit einer Polizistin, ich aber rannte hinauf zu der Wohnung, mit der Hoffnung...ich weiß auch nicht.
Mario war mir gefolgt, hatte mich vor der Wohnung stehend angetroffen. Wir hatten es beide gewusst, ohne die Wohnung zu betreten. Die Stille, die sie ausstrahlte, war Antwort genug gewesen. Diese Stille, die nur der Tod so hinterließ.

Ja, der Tod.

Wie gesagt, ich hatte es genau dann gewusst, schließlich kannte ich diese Stille und deswegen war es kein Schock, als ich in die Wohnung trat, die wenigen Schritte ging, die zu seinem Zimmer führten. Die zwei Polizisten mittleren Alters hatten auf mein Eintreten etwas von sich gegeben. Vermutlich so etwas wie „Es tut mir leid, Frau Held", doch sicher war ich mir nicht. Denn es war nicht zu mir durchgedrungen.

Stattdessen sah ich nur ihn. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht wie immer nicht rasiert. Links von ihm das Telefon, rechts von ihm mehrere Schlaftablettenpackungen. In seiner Hand ein Bild von ihr.

Natürlich.

Ich griff nach dem Bild und sah es an. Meine Mum. Sie war eine wunderschöne Frau gewesen. Sein ein und alles. Mein ein und alles.

Unser Untergang.

Während ich das Bild in der Hand hielt, ertasteten meine Finger Papier an der Hinterseite des Bilderrahmens. Ich drehte es um. Es war ein Brief mit meinem Namen drauf. Ich hatte ihn sofort fallen lassen. Einfach so auf den Boden. Als könnte mich ein bloßes Stück Papier tatsächlich verbrennen.

Maybe tomorrow (Mario Götze)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt