18. Langer Tag

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In den nächsten zwei Tagen habe ich dieses Bedürfnis, mit Jim zu kuscheln, noch öfter, besonders wenn ich von der Arbeit nach Hause komme. Meine Aufgaben sind so vielfältig, umfangreich und viele, dass ich mit der Abarbeitung kaum hinterherkomme. Anfangs ist Wulf noch relativ nachsichtig für seine Verhältnisse, doch am dritten Tag als seine Sekretärin beginnt er mir noch mehr Druck zu machen. Jeden Nachmittag arbeite ich länger, sehr zum Verdruss von Jim. Auch wenn wir nicht im eigentlichen Sinne zusammen sind, stört es ihn gewaltig wenn ich nicht zu Hause bin und er beginnt sogar irgendwie zu jammern. Aber ich kann nichts daran ändern.
Wegen der Erklärung habe ich Wulf eindringlich verklickert dass ich das nicht unterschreiben werde, und da ich ihm dabei auch noch einen Kaffee gebracht habe - dieses Mal mit Süßstoff - hat er relativ ruhig reagiert.
Heute sitze ich mal wieder an meinem Schreibtisch und bekomme von Sybille nun genauer erklärt wie ich die Software benutzen kann. Wir haben die Mittagspause gemeinsam verbracht und unter anderem festgestellt, dass wir einen ähnlichen Musikgeschmack haben. Außerdem hat Jim mir eine Nachricht geschickt, die mein Herz unwillkürlich schneller schlagen lässt.

Jim: Hey Honey ;) Ich habe gerade Sherlock Holmes getroffen und das Spiel hat begonnen! :D Da ich mich als schwul ausgegeben habe, wird es wohl nicht mehr lange dauern bis Molly die Beziehung beendet. Freue mich schon auf dich.

Erleichterung durchströmt mich als ich diesen kleinen Text lese und ich muss unwillkürlich lächeln.
"Na, was schönes empfangen?", fragt Sybille mich mit einem Augenzwinkern und ich grinse.
"Mein Freund ist einfach süß."
Oh ja, und wie er das ist.
Um halb drei bin ich gerade dabei, Wulfs Terminplan für die nächsten zwei Wochen zu erstellen und nebenbei auch noch zwei Veranstaltungen, bei denen er anwesend sein muss, sowie ein Meeting zu planen, als mein Chef plötzlich mit einem Stapel Akten, ohne anzuklopfen, in mein Büro platzt.
"Sortieren Sie die ins System. Später kommen noch mehr."
Die Tür geht wieder zu und der Stapel Akten thront nun auf der Kante meines Schreibtischs, gefährlich nahe daran, abzustürzen. Mit einer Hand ziehe ich ihn ein wenig näher zu mir, dann mache ich weiter mit dem Terminplan.
Zwei Telefongespräche, einen Kaffee für Wulf und zwei Stunden später habe ich nur noch die Akten zum eingeben ins System vor mir, danach kann ich theoretisch nach Hause.
Doch das Eingeben der Kundendaten ins System gestaltet sich als langwieriger als gedacht, denn ich habe so gut wie keine Übung darin und brauche alleine für eine Akte ewig. Als nur noch die Hälfte des Stapels vor mir liegt, ist es bereits zehn nach sechs und ich bin eigentlich geneigt einfach nach Hause zu gehen. Jedenfalls bis plötzlich Wulf wieder herinplatzt und einen neuen Stapel Akten auf den alten packt.
"Hier ist der Rest. Das muss bis morgen früh fertig sein."
Damit geht er wieder und lässt mich entgeistert auf meinem Stuhl sitzen. Wie bitte?
Mühsam die Verzweiflung hinunterschluckend, atme ich tief durch, stehe auf und öffne das Fenster, um mal wieder Sauerstoff zu bekommen. Von draußen dringen die Geräusche von Autos und Menschen herein, sowie der Geruch nach halbwegs frischer Luft. Meine Bürotür steht offen, deswegen bemerke ich am Rande, dass viele meiner Kollegen endlich Feierabend machen und gehen. So auch Sybille, die so gegen halb sieben den Kopf zur Tür hereinstreckt.
"Du sitzt noch dran?"
Ich schaue vom Bildschirm auf und in ihr Gesicht.
"Ja, leider, ich brauche echt ewig dafür. Aber sind ja nur noch elf", antworte ich mit einem schiefen Lächeln und Sybille schaut mich mitleidig an.
"Ich würde dir ja helfen, aber ich bin schon spät dran und Jamie braucht mich."
"Ist schon in Ordnung, das verstehe ich. Bis morgen."
"Bis morgen, und mach nicht zu lange."
"Ich versuchs."
Kaum ist sie weg, widme ich mich wieder meiner Arbeit, aber nicht ohne ein leises Seufzen. Warum ich?
Als es bereits dämmert, bekomme ich am Rande mit, dass auch Mister Wulf nach Hause geht. Dieser Mistkerl.
Um halb acht etwa klingelt auf einmal mein Handy und ich weiß sofort wer es ist.
"Hi Jim", murmele ich müde und stelle das Gespräch auf laut, damit ich noch weiterarbeiten kann.
"Honey, wo bist du? Etwa noch bei der Arbeit?"
"Ja... tut mir leid Jim, aber die Sachen müssen noch heute ins System eingetragen werden und ich brauche einfach sehr lange dafür."
Ich kann den verzweifelten Unterton in meiner Stimme nicht zurückhalten und merke, wie sich Tränen in meinen Augen bilden.
"Hat dein Chef dir diese Aufgabe gegeben?"
"Klar, wer sonst."
Eine Weile lang herrscht Schweigen, und zwar eins von der Sorte in dem Jim intensiv nachdenkt und sich zurückhalten muss um nicht auszurasten.
"Du kommst jetzt nach Hause, und dann wirst du etwas gegen diesen Menschen unternehmen, wenn du schon nicht willst dass ich etwas tue", sagt er schließlich mit mühsam ruhiger Stimme.
"Es ist nur noch eine Akte, und die muss ich machen, denn das soll morgen fertig sein. Außerdem fährt der Bus kaum noch."
Bei dem Gedanken im Dunkeln alleine irgendwie nach Hause zu müssen, würde ich am liebsten einfach hier bleiben.
"Soll ich dich abholen?"
"Das wäre toll, ja", antworte ich fast schon flüsternd und nehme das Handy wieder in die Hand.
"Okay Mel, in 20 Minuten bin ich bei dir, also draußen auf der Straße."
"Danke."
"Kein Problem, aber versprich mir dass du irgendetwas unternimmst."
"Ich versuchs."
Ich weiß, dass das Jim keineswegs überzeugt aber etwas anderes kann ich momentan nicht sagen. Dafür bin ich viel zu müde.
Mit einigen letzten, unbeholfenen Bewegungen speichere ich alles ab und fahre den Computer herunter, dann strecke ich mich. Bevor ich meine Tasche packe um zu gehen, schließe ich das Fenster und stecke mein Handy ein, danach nehme ich meine Sachen und gehe zum Aufzug.
Außer mir ist keiner mehr da, was irgendwie nicht verwunderlich ist. Nur eine Putzfrau befindet sich mit ihrem Wagen bei den Aufzügen und wirkt überrascht als sie mich sieht. Ohne ein Wort mit ihr zu wechseln trete ich in einen Aufzug und drücke den Knopf, der mich nach unten bringt. Ich könnte im Stehen einschlafen.
Unten will der Hausmeister gerade die Vordertür abschließen, als ich aus dem Aufzug komme und er mich entdeckt.
"Jetzt aber schnell!", ruft der ältere Herr freundlich und hält mir sogar noch die Tür auf, was ich nur mit einem müden Lächeln bedenken kann. Zum Glück sind nicht alle Menschen wie Wulf.
Draußen ist es kühl, aber ich ziehe mir meine Jacke nicht an, denn die Kühle weckt mich ein wenig auf. Aufmerksamer schaue ich mich um, da entdecke ich Jim auf der anderen Straßenseite bei seinem Auto. Er lehnt an der Beifahrerseite und hat die Arme missmutig vor der Brust verschränkt. Zumindest sieht es von hier missmutig aus.
Seine Haare sind nach wie vor kurz geschnitten, er trägt eine Jeans und unter einem schwarzen Mantel ein hellgraues T-shirt, wodurch er wirklich ausgesprochen harmlos aussieht.
Als er mich ebenfalls sieht, stellt er sich richtig hin und seine Miene hellt sich auf. Mit einigen Schritten überquere ich die Straße, doch bevor Jim irgendetwas sagen kann, ziehe ich ihn an mich und vergrabe mein Gesicht an seiner Schulter. Überrascht legt er beide Arme um mich und ich spüre seine Hand an meinem Hinterkopf.
"Alles ist gut Honey", sagt er leise und ich spüre dass ich mich entspanne. Obwohl ich eigentlich gesagt habe, dass ich mit Jim nur befreundet bin solange er mit Molly zusammen ist, umarme ich ihn und das hat mir gefehlt. Außerdem ist mir das gerade sowas von egal, ich brauche Jim jetzt. Dieser streicht mir sanft über den Hinterkopf und hält mich ebenfalls fest.
"Schon morgen ist es vorbei", murmelt er, als hätte er meinen Gedanken gespürt.
Langsam lasse ich ihn los und er streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, dann öffnet er mir die Autotür. Schweigend steigen wir beide ein, aber es ist ein verständnisvolles Schweigen. Als Jim den Motor startet und losfährt, lehne ich meinen Kopf gegen die Fensterscheibe, genieße die Kühle des Glases.
"Also hast du heute Sherlock getroffen?", breche ich nach einer Weile die Stille und Jim beginnt zu lächeln. Anscheinend hat ihm diese Begegnung Spaß gemacht.
"Genau, und er ist echt interessant. Zwar weiß er nicht wen er da heute getroffen hat, aber er ist interessant. Hab ihm meine Nummer gegeben."
Er lacht leise in sich hinein und ich schmunzele angesichts seiner offensichtlichen Freude darüber, dass Sherlock ihn nicht erkannt hat.
"Allerdings hat er noch nicht angerufen", fügt mein Mann noch hinzu, nicht ohne einen leichten Schmollmund zu ziehen.
"Wie furchtbar", murmele ich müde lächelnd und schaue Jim beim fahren zu.
"Findest du ich habe Nachtclub-Augen?", erkundigt er sich nach einer Weile bei mir und dreht den Kopf. Seine dunkelbraunen Augen wirken groß im dämmrigen Licht, außerdem sieht er so aus, als hätte er längere Zeit nicht viel geschlafen.
"Naja... ein bisschen vielleicht", antworte ich zögernd.
"Wieso fragst du?"
"Weil Sherlock das meinte."
"Das hat er zu dir gesagt?"
"Nein, aber ich habe ihn gehört als er über mich gesprochen hat."
Da zucke ich mit den Schultern und schließe die Augen.
"Ich finde eher du hast Teddybären-Augen."
Daraufhin lacht Jim und ich grinse leicht, dann atme ich seufzend aus. 
"Und wie fandest du ihn?", frage ich nuschelnd und halte ein Gähnen zurück. Wie lange müssen wir eigentlich noch fahren?
"Er ist bemerkenswert, wirklich bemerkenswert, aber... er hat irgendwie nicht das Potenzial so zu sein wie ich. Er ist gewöhnlich, verstehst du?"
"Mhm, klar."
"Hey, nicht einschlafen, wir sind jeden Moment da", meint Jim lachend und stupst mich an bis ich die Augen wieder öffne.
Tatsächlich halten wir kurze Zeit später vor unserem Haus an und Jim seufzt erleichtert.
"Komm Honey, du musst nur noch aussteigen, ins Haus gehen und dich fertigmachen, dann kannst du ins Bett."
"Das ist viel zu viel", murre ich, steige aber im nächsten Moment trotzdem aus dem Auto. Irgendwie schaffe ich es von da aus ins Haus und sogar ins Badezimmer, während Jim meine Tasche in den Flur bringt.
Wenig später kommt er ins Bad während ich gerade Zähneputze und mustert mich besorgt.
"Was wirst du gegen diesen... Wulf... unternehmen?"
Er verzieht das Gesicht bei der Nennung meines Chefs und ich spucke die Zahnpasta ins Waschbecken.
"Erstmal werde ich schauen dass ich meinen Job nicht verliere, dann trommele ich die anderen Kollegen, die etwas gegen ihn haben, zusammen und schaue weiter. Mehr kann ich nicht tun, es sei denn es liegt was wirklich schlimmes vor."
"Oh, das ist etwas schlimmes. Er verwehrt mir dass ich meine Frau sehe", widerspricht Jim todernst und schaut mich über den Spiegel hinweg an. Für einen Moment glaube ich, dass er zu mir kommen und mich von hinten umarmen will, doch er bleibt dort stehen wo er gerade ist, die Hände in seinen Hosentaschen vergraben.
"Mach du erstmal Schluss mit Molly", sage ich leise, mache mich noch schnell ganz fertig und verlasse dann das Bad.
"Warum willst du denn den Job behalten?", ruft er hinter mir her, so als hätte er das gar nicht gehört und ich bleibe auf der Hälfte der Treppe stehen.
"Weil ich erstens keine Lust habe mir schon wieder was neues zu suchen, zweitens weil ich das nicht irgendjemand anderem, der noch weniger Chancen hat als ich, aufbürden will. Drittens brauche ich einen Grund für die Kündigung, und den habe ich nicht", antworte ich und Jim lehnt sich in den Türrahmen zum Badezimmer.
"Okay... und was meinst du mit 'noch weniger Chancen als ich'?"
Da beginne ich zu schmunzeln und setze meinen Weg nach oben fort.
"Falls alles fehlschlägt habe ich immernoch dich."
"Aha. Dann gute Nacht Honey", antwortet Jim mit einem Lachen.
"Dir auch Jim", rufe ich noch zurück, dann schließe ich die Tür zu 'meinem' Zimmer.

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Moriarty In Love - The GameWo Geschichten leben. Entdecke jetzt