Kapitel 2

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Tief sah sie mir in die Augen und drückte meine Hand noch fester. Der ängstliche Blick von heute Morgen beziehungsweise heute Mittag war wieder da. Die Massen kamen schon aus ihren Häusern und gingen auf den großen Festplatz zu. Sobald wir uns in den Menschenfluss einreihten nahmen die in unserem Alter ein paar Schritte abstand. Die älteren gingen einfach weiter. Sie wussten nicht, was für eine Angst alle vor mir hatten. Zumindest die meisten. Und ich war froh drüber. Wir kamen dem Festplatz immer näher und Tatjana drückte sich immer mehr an meine Seite. Jetzt mussten wir uns jedoch eintragen und sie musste meine Hand loslassen. Ängstlich krallte sie sich an  meine Hand, während sie weiter von mir weg ging. Als unsere Hände sich endgültig trennten drehte sie sich noch einmal zu mir um. Ich nickte ihr zuversichtlich zu und stellte mich in die Reihe. „Der Nächste.“ Nach einer gefühlten Ewigkeit war ich endlich dran. Ich streckte der Frau am Tisch meinen Zeigefinger hin, den sie nahm, reinstach und auch ein Blatt Papier drückte. Ich verzog kurz mein Gesicht und sah auf meinen Finger. „Der Nächste.“ Sofort verließ ich die Reihe und ging zu der Seite, wo die Jungs standen. Etwas weiter hinten stellte ich mich neben einen anderen. Nach und nach stellten sich immer mehr neben und hinter mich. Ich sah zur Mädchen Seite rüber und hielt vergeblich Ausschau nach Tatjana. „Na, Erik? Kannst deine hübsche, kleine Freundin nicht finden?“ Ich wendete meinen Blick auf den Jungen neben mir. „Du kannst sie vor den Spielen nicht beschützen. Wann kapierst du das endlich?“ Mein Blick wurde schlagartig wütend. Aber leider hatte er Recht. Ich kann sie vor den Spielen nicht beschützen. Trotzdem hätte ich ihm am liebsten eine reingehauen, aber hier standen überall Friedenswächter. Und wer weiß, was die mit Leuten machen, die sich nicht an die Regeln halten. Ich warf ihm einen mörderischen Blick zu und sah wieder nach vorne. „Oho. Der große Erik ist wütend. Lauft alle weg, bevor er euch umbringt!“ Sarkastisch lachte er und tat so als würde er Angst haben. Ich ballte meine Hände zu Fäusten, hielt mich aber noch zurück. Ein paar weitere um mich herum begannen auch zu lachen. Wie ich diese Leute hasse. Warum konnten die mich nicht einfach in Ruhe lassen. Nach einer weiteren Ewigkeit, wo sich die Jungs neben mir über mich lustig gemacht haben fing es endlich an. Unser Bürgermeister erhob sich schwerfällig von seinem Stuhl und schleppte sich ans Mikrofon. Alle fragen sich, wie der überhaupt noch leben kann. Er strich sich durch seinen langen, grauen Bart und räusperte sich. Er fing an die gleiche Rede wie jedes Jahr zu halten. Dass es vor langer Zeit heftigen Krieg gab zwischen den Distrikten und dem Kapitol, dass Distrikt 13 dem Erdboden gleich gemacht wurde und das Kapitol die Hungerspiele einführte um Frieden zu schaffen. Und dass wir dem Kapitol dankbar sein sollten und so. Das ganze Gelaber halt. Und es entspricht eh nicht der Wahrheit. Nach einer halben Stunde oder so hörte er endlich auf und machte seinen Platz am Mikro frei. Eine Frau, von der man nicht ansatzweise erkennen konnte wie alt sie war, stöckelte zum Mikrofon. Lucille war glaube ich ihr Name. Sie hatte ein komisches neongelbes Kleid an und eine überdimensionale pinke Perücke auf. Lange blaue Schnörkel waren um ihre Augen gemalt und auch ihre Wimpern waren blau. Der ebenfalls blaue Lippenstift war nur in der Mitte ihrer Lippen. Also kurzgefasst: Sie sah aus wie alle anderen im Kapitol. Übertrieben, komisch und hässlich. In einer viel zu hohen Stimme fing sie an zu reden. „Fröhliche Hungerspiele. Und möge das Glück stets mit euch sein.“ Der Bürgermeister war wieder bei seinem Stuhl angekommen und setzte sich neben einen Mann, der nervös mit seinen Füßen wippte und die ganze Zeit auf eine Kette in seiner Hand starrte, die er zwischendurch ausversehen fallen ließ und wieder aufhob. Soweit ich mich erinnere ist das der Mentor von Distrikt 8, der den Tributen Ratschläge und sowas geben soll. Vor 9 Jahren hatte er die Spiele gewonnen und ist seit dem der neue Mentor. Man ist das immer, wenn man gewinnt. Lucille grinste überfröhlich vor sich hin und fing wieder an zu reden. „Wie sagt man so schön? Mann voran.“ Es ist jedes Jahr andersrum. Letztes Jahr war es «Lady's first». Sie stöckelte zu einer riesigen Glaskugel und griff hinein. Sie wühlte durch die tausenden Zettel und zog dann einen heraus. Sie stöckelte wieder zu Mikro und faltete den Zettel auf. Gespannt hielt ich meine Luft an. „Andrew Parkers.“ rief sie fröhlich. Erleichtert atmete ich auf. Alle Blicke richteten sich auf ihn. Langsam ging er zur Bühne und stieg die Stufen hinauf. Sofort erkannte ich ihn und konnte mir ein grinsen nicht verkneifen. Es war der ekelhafte, dem ich vor ein paar Jahren eine reingehauen habe, weil er Tatjana unerlaubt angegrabscht hatte. Er war oben angekommen und stellte sich neben Lucille. Man sah, dass er versuchte unbetroffen auszusehen, doch man sah schon einen leichten Schock in seinem Gesicht. Ganz hinten fing eine Frau an zu weinen. Wahrscheinlich seine Mutter. „Sehr schön. Kommen wir nun zu den Damen.“ Lucille stöckelte zu der anderen Seite der Bühne, wo eine zweite Glaskugel stand. Sie griff hinein und ging mit einem Zettel in der Hand zurück zum Mikrofon. Ich sendete leise Gebete zum Himmel, dass es nicht Tatjana ist. Sie entfaltete den Zettel und holte Luft. „Tatjana Werth.“ Mir blieb die Luft weg. Nein! Das konnte nicht sein. Es muss ein Fehler sein. Ich habe mich sicher verhört. Ich merkte, wie die Jungs neben mir mich ansahen. Wütend sah ich sie an. Was wollen die denn jetzt von mir? Doch dann sah ich sie. Langsam schritt sie die Treppe zur Bühne hoch und stellte sich neben Andrew. Ängstlich sah sie sich um. Andrew fing an schmierig zu lächeln. Ich muss es tun! Wer weiß, was er mit ihr macht und wer weiß, ob sie die Hungerspiele überlebt. Ich muss sicherstellen, das sie es schafft. Ich fing an mich durch die Leute zu kämpfen, um zur Bühne zu gelangen. Ein paar fuhren mich genervt an, verstummten jedoch, als sie meinen ernsten Blick sahen. Vorne angekommen wurde ich sofort von ein paar Friedenswächtern aufgehalten. „Ich melde mich freiwillig!“ knurrte ich sie an. „Wie bitte?“ Einer der Friedenswächter sah mich verwirrt an. „Ich melde mich freiwillig!“ rief ich jetzt laut genug, dass es alle hören konnten. Sie ließen mich los und schubsten mich dann in Richtung Bühne. Ich sah hoch, wo Lucille mich verwirrt ansah. Tatjana hatte ihre Hände vor den Mund geschlagen und man sah Tränen in ihren Augen glitzern. „Ähm. Ja dann komm hoch.“ Ich ging schnell die Treppen nach oben und sah Andrew an, der von ein paar Friedenswächtern wieder nach unten gebracht wurde. Sofort lief ich zu Tatjana und nahm sie in den Arm. Zitternd schlang sie ihre Arme um meinen Bauch. „Wir haben einen Freiwilligen! Würdest du uns bitte deinen Namen verraten?“ Lucille hielt mir das Mikro vor die Nase. „Erik. Erik Range.“ Brachte ich trocken hervor und streichelte Tatjana leicht über den Rücken. Sie löste sich jedoch von mir und zog meinen Kopf zu sich herunter. Ich sah eine Träne ihre Wange herunterfließen, bevor sie ihre Lippen auf meine drückte und ich meine Augen schloss. Leise räusperte sich Lucille und brachte uns dazu uns voneinander zu trennen. „Einen Applaus für die Tribute der 43. Hungerspiele!“

Die Tribute von Panem - Panik & CurrbiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt