Ich setze mich zu den anderen und öffne meine Wasserflasche. So motiviert wie heute morgen sieht keiner mehr aus und unsere Schicht geht noch einige Stunden. Das hier ist mein Traumjob, aber der Anfang ist schwer.
"Und, was sind eure Aufgaben?", frage ich die anderen. "Irgendetwas interessantes?"
"Nein. Ich darf den Patienten in der Notaufnahme die Pflaster aufkleben.", antwortet Emilia.
"Ich darf mich um die Grippe-Patienten kümmern. Richtig spaßig."
Ich hätte nie gedacht, dass ich es mal schaffen würde wieder mit Tobias an einem Tisch zu sitzen. Mich mit ihm zu unterhalten. Er hat mich so verletzt, aber ich liebe ihn nicht mehr und ich bin so schlecht darin Menschen zu hassen. Kate verurteilt mich dafür, die anderen verstehen es nicht. Ich verstehe mich ja selber nicht. Aber hier, wo alles fremd ist, ist es ganz nett jemanden zu haben, den man kennt.
"Also ich darf Krankenakten aufarbeiten. Ich habe nichtmals Kontakt zu Patienten.", beschwert Hannah sich und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
"Immerhin seid ihr nicht mehr unter Ricks' Aufsicht. Der Typ quält mich. Ich beobachte nicht nur den Komapatienten, ich darf auch Krankenakten aufarbeiten." Ich sehe auf meine Uhr. "Apropos Komapatient, ich muss los und seine Werte kontrollieren. Mal wieder."
Ich stehe auf und gehe schnellen Schrittes los. Wenn die Ergebnisse auch nur eine Minute zu spät kommen killt Ricks mich bestimmt und das möchte ich nicht erleben. Eine Schwester hilft mir bei der Untersuchung. Das ist auch ganz gut so, denn sie kann mir immerhin sagen in welchem Schrank sich was befindet.
Die Werte sind etwas gesunken und sein Puls ist erhöht. Ob das besorgniserregend ist?
Keine Ahnung."Wo ist Ricks?", frage ich die Schwester nervös.
"Der müsste im OP sein. Im Foyer des OP-Stockwerks hängt der Plan, da müssen Sie drauf sehen."
Ich befolge ihren Rat und suche das Stockwerk auf. Ricks befindet sich in Operationssaal 3 und führt gerade eine kleinere Herzoperation durch. Ich lege eine Maske an und öffne die Tür zum OP.
"Dr. Ricks?"
"Was machen Sie denn hier?"
Er klingt verärgert, legt das Skalpell aber nicht aus der Hand und operiert weiter. Ich muss mich beherrschen, um nicht fasziniert zuzusehen.
"Die Werte von Mr. Harper haben sich verändert."
Ich komme mir vor wie ein Eindringling. Das bin ich wahrscheinlich auch, denn im OP-Bereich habe ich wohl nichts zu suchen. Während Ricks weiter operiert, sieht mich der Assistenzarzt neben ihm unsicher an.
"Inwiefern?"
"Sie sind gesunken."
"Viel oder wenig? Verdammt, Parker, muss man ihnen jedes Wort aus der Nase ziehen? Sie müssen präzise sein."
"Leicht gesunken. Ich kann ihnen die genauen Zahlen gerade nicht sagen."
"Beobachten Sie ihn weiterhin, ich komme sobald ich hier fertig bin."
Schnell schließe ich die Tür zum OP wieder. Mein Gott, war das unangenehm. Ich kontrolliere die Werte von Mr. Harper erneut. Sie sind schon wieder gesunken. Ich setze mich wieder hinter die Theke und notiere alle Werte.
Dr. Ricks kommt nicht."Können Sie Dr. Ricks nochmal anpiepen?", frage ich und klopfe nervös mit den Fingern auf der Akte herum.
"Wir haben ihn doch erst vor zwei Minuten erneut benachrichtigt."
"Entschuldigung."
Nach ewigem Warten taucht Dr. Ricks immer noch nicht auf. Die Werte sinken nicht mehr, erhöht haben sie sich aber auch nicht.
"Es gibt Komplikationen im OP3. Dr. Ricks kommt sobald wie möglich, er meint aber, dass sie schon klar kommen."
Der Mann hat ja einen guten Humor. Mir bleibt jedoch nichts anderes übrig, als weiter zu warten und die Werte zu kontrollieren. Es beginnt zu dämmern und ich bin immer noch alleine.
Auf einmal geht der Alarm im Zimmer des Patienten an. Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf und laufe los. Eine Schwester stellt den Alarm ab. Ich lese das EKG ab.
"Ich glaube er hat einen Herzstillstand."
"Sie glauben?", die Schwester sieht mich skeptisch an. Panisch sehe ich zurück.
"Nein. Ich.. Er hat einen Herzstillstand. Übernehmen Sie die Beatmung, ich führe die Reanimation durch. Und piepen Sie Ricks nochmal an!"
Wir machen uns an die Arbeit. In regelmäßigen Abständen drücke ich fest auf die Stelle, an der ich sein Herz vermute. Schon nach wenigen Minuten bin ich erschöpft, aber das Adrenalin in meinem Körper bringt mich dazu weiterzumachen.
"Dr. Ricks ist verhindert."
"Verhindert?", schreie ich die Schwester an. "Er soll seinen verdammten Arsch herbewegen und mir helfen diesen Patienten zu retten!"
Ich mache weiter. Ricks kommt nicht. Die Schwester kommt auch nicht wieder. Ich presse weiter auf die Brust des Mannes ein, die andere Schwester führt in regelmäßigen Abständen die Beatmung durch.
Wieso werde ich so alleine gelassen? Wieso kommt kein anderer Arzt vorbei? Ich kenne kaum Ärzte hier, weshalb ich keine weiteren Anweisungen mehr geben kann."Sie machen das schon viel zu lange.", bemerkt die Schwester. Trotzdem traut sie sich nicht mit der Beatmung aufzuhören.
"Das ist mein erster Patient und er wird heute nicht sterben.", keife ich sie an.
Ich mache noch minutenlang so weiter. Immer im selben Rhythmus. Nichts passiert. Aber ich gebe nicht auf. Dieser Mann wird nicht heute sterben.
"Wie lange wird schon reanimiert?", ertönt eine Stimme hinter mir. Ich bin so im Rausch, dass ich sie nicht auf Anhieb erkenne.
"Mindestens vierzig Minuten. Sie will nicht aufhören."
"Melissa hör auf." Alex tritt in mein Sichtfeld. Doch mein Wille diesen Mann vor mir zu retten ist stärker als der Schock, dass Alexander Lehmann vor mir steht.
"Nein."
"Er ist tot, Melissa. Hör auf."
"Ich werde sein Blut durch seine Venen pumpen, bis sein Herz das wieder übernimmt. Dieser Mann wird heute nicht sterben. Verdammte Scheiße, hol doch mal einer Ricks!"
Stur mache ich weiter. Auch wenn ich innerlich begriffen habe, dass der Mann keine Chance mehr hat. Ich will es mir nicht eingestehen. Ich will meine Karriere nicht mit einem Todesfall beginnen.
"Der Mann ist bereits tot. Melissa, hör auf." Als ich immer noch nicht aufhöre, wird sein Ton härter. "Dr. Parker, nehmen Sie die Hände vom Patienten. Sofort."
Alex greift vorsichtig nach meinen Händen und nimmt sie von der Brust des Patienten. Dann sieht er auf die Uhr und bestimmt den Todeszeitpunkt. Ich fühle mich elend, bin von mir selbst enttäuscht. So enttäuscht, dass ich anfangen könnte zu weinen.
"Komm mit.", fordert er mich auf.
Alex führt mich in einen Vorratsraum. Überall sind Regale, gefüllt mit Verbänden und Instrumenten. Erst jetzt begreife ich wirklich, dass Alex vor mir steht. Übelkeit macht sich in mir breit.
"Was machst du hier?", frage ich mit erstickter Stimme.
"Ich arbeite hier."
Seine Antwort ist so trocken, dass ich fast gelacht hätte. Aber die Wut und die Verzweiflung sind größer.
"Nein, du wolltest wechseln. Chefarzt werden. Ich hätte die Stelle doch sonst nie angenommen."
"Ich wollte das mit dir machen. Nicht alleine.", erklärt er. Ich sehe zu Boden, denn ich kann es nicht ertragen ihn anzusehen. "Geh nach Hause, Melissa. Lass uns morgen reden."
"Nein, ich muss den Angehörigen mitteilen, dass ihr Ehemann und Vater gestorben ist und Dr. Ricks suchen. Und nein, ich möchte nicht mit dir reden." Ich gehe zur Tür. "Ach, genau. Und für dich heißt es immer noch Dr. Parker."
Das ist die Hölle. Ich arbeite mit Alex in einem Krankenhaus. Er ist mein Oberarzt. Und ich konnte den Patienten nicht retten.
Der Tag kann nicht mehr schlimmer werden.
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Doctor
Teen FictionNach der Trennung von Alex kämpft Melissa sich durchs Leben. Sie hat ihr Studium beendet und sich bei verschiedenen Krankenhäusern beworben. Als sie eine Zusage von dem Krankenhaus, in dem auch Alex gearbeitet hat, bekommt, nimmt sie ohne zu Zögern...