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Ich wandere von einem Patienten zum nächsten und halte mich die ganze Zeit in der Notaufnahme auf. Das Feuer fordert immer mehr Opfer und erst jetzt, um acht Uhr morgens, scheint die Lage sich zu beruhigen. Es werden weniger Verletzte eingeliefert und wir können alle etwas herunterfahren. Ich bin völlig übermüdet und dabei muss ich noch acht Stunden arbeiten. Immerhin traut man uns keine großen Fälle zu, so kann nicht viel passieren.

Das Gespräch mit Alex liegt mir noch immer schwer im Magen. Meine Worte müssen ihn mindestens genauso sehr verletzt haben, wie sie mich selbst verletzt haben. Aber es schien mir das einzig Richtige zu sein. Die beste Lösung für alle. Ich könnte Alex nicht mehr vertrauen. Ich will endlich mit ihm abschließen können und nach vorne blicken.

Bis die ersten verletzten Feuerwehrleute eingeliefert werden, habe ich noch gar nicht daran gedacht, dass Fabian jetzt hier wohnt und wahrscheinlich auch an den Löscharbeiten beteiligt ist. Ich hoffe, dass er so mit der Arbeit beschäftigt ist, dass er es nicht geschafft hat auf seinen Pieper zu reagieren. Ich hoffe, dass er gerade auf dem Weg zur Arbeit ist und sich ärgert, weil er nicht beim Löschen helfen kann. Aber ich weiß, dass er ein guter Feuerwehrmann ist. Gut in seiner Arbeit und gut in seiner Moral. Also hoffe ich am meisten, dass er sich auch heute wieder gut anstellt.

"So, Mr. Gipson, wie..?"

Ich muss feststellen, dass sich hinter dem Vorhang, den ich gerade gestresst zur Seite gezogen habe, nicht Mr. Gipson befindet. Das Bett ist leer und von dem Mann fehlt jede Spur. Ich sollte mich darum bemühen jüngere Patienten behandeln zu können.

"Haben Sie gesehen wo Mr. Gipson hingegangen ist?", frage ich die Schwestern, die die Krankenakten ausgeben.

"Nein. Er wird wohl nicht weit sein."

"Das ist mir völlig egal. Der Mann ist wahrscheinlich dement."

Wütend gehe ich weiter. Wenn die Zusammenarbeit hier weiterhin so mies ist werden mir die nächsten Stunden noch weniger Spaß machen. Ich durchsuche alle Gänge in der Nähe, kann ihn aber nicht finden. Also beschließe ich, dass es sinnvoller ist erstmal etwas zu trinken, um wieder einen klareren Verstand zu bekommen. Am Automaten treffe ich auf Emilia.

"Was für eine Nacht."

"Ja, und sie ist noch nicht vorbei. Immerhin hat man uns mal gebraucht."

Sie nimmt ihre Flasche Wasser aus dem Automaten und geht einen Schritt zur Seite, damit ich Geld einwerfen kann.

"Stimmt." Sie öffnet ihre Flasche und trinkt. Ich tue es ihr nach. Das Wasser tut gut, aber Kaffee wäre wohl die bessere Wahl gewesen.

"Du hast nicht zufällig einen alten verwirrten Mann hier herumlaufen sehen?", frage ich. Sie schüttelt den Kopf. "Schade."

"Parker, Beck. Blockieren Sie nicht den Automaten und machen Sie sich wieder an die Arbeit."

Beim Ton von Ricks' Stimme zucken wir zusammen. Wir tauschen noch einen vielsagenden Blick, dann gehen wir wieder in die Notaufnahme. Dort finde ich auch endlich Mr. Gipson. Unerfreulicherweise redet er gerade mit Alex.

"Mr. Gipson, da sind sie ja."

"Ach, das ist die Frau, die Sie suchen?", fragt Alex den Mann und deutet auf mich.

"Ja, genau. Ich muss sie vorhin verloren haben."

"Alles gut, jetzt haben Sie mich ja gefunden.", sage ich und lege ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.

"Dr. Parker wird Sie jetzt zurückbringen.", fügt Alex hinzu. "Ich will dich in fünf Minuten wieder genau hier sehen. Du bringst den Mann weg und dann kommst du wieder. Hast du das verstanden?"

"Aber", will ich protestieren, aber Alex lässt mich gar nicht zu Wort kommen und seine Wut lässt mich verstummen. So habe ich Alex noch nie erlebt.

"Kein aber, Dr. Parker."

"Kommen Sie, Mr. Gipson."

Ich führe ihn durch die Notaufnahme. Mir fällt auf, wie aufmerksam er das Geschehen beobachtet. Trotzdem hängen meine Gedanken immer noch bei Alex fest.

"Warum sind denn so viele Menschen hier?", fragt Mr. Gipson plötzlich.

"Na, es gab doch einen Brand in dem Haus, in dem Sie wohnen. Deshalb sind Sie doch auch hier. Aber Sie dürfen wieder nach Hause wenn ihre Tochter eingetroffen ist."

"Meine Tochter? War meine Tochter auch in dem Haus?" Mir wird klar, dass der Mann eindeutig an Demenz erkrankt ist. Aber dazu wird seine Tochter uns wohl mehr erzählen können.

"Nein, Mr. Gipson. Ihrer Tochter geht es gut."

Der Mann scheint beruhigt und lässt sich ruhig zurück zu seinem Bett führen. Ich bitte eine Schwester darum, wirklich gut auf ihn aufzupassen und weise erneut auf die Demenz hin. Dann gebe ich noch Bescheid, dass ich bald zurück sein werde und gehe wieder zu dem Ort, an dem Alex mich sehen wollte. Er steht immer noch genauso da wie vorher. Und immer noch sieht er wütend aus. Wir stehen mitten im Eingang der Notaufnahme und würden wahrscheinlich sofort über den Haufen gerannt werden wenn ein Patient eingeliefert werden würde. Eine Zeit lang sehen wir uns nur an. Wie früher, nur dass er so wütend aussieht. Ich habe das Verlangen mich in seine Arme zu werden, ihn zu küssen und nie wieder loszulassen. Aber die Zeit hat die Dinge verändert und könnte ich die Zeit zurückdrehen, würde ich es sofort tun, aber ich kann es nunmal nicht. Und ich kann Alex nicht verzeihen.

"Du bist von dem Fall abgezogen. Du bist von allen Fällen abgezogen. Geh, und tu dich mit Tobias zusammen. Du betreust keinen Patienten mehr alleine."

"Was?" Entsetzt sehe ich ihn an. "Wieso?"

"Wir befinden uns in einer Ausnahmesituation und du lässt die Patienten laufen. Das geht so nicht."

"Der Mann ist dement! Das hätte jedem passieren können.", protestiere ich. Das kann er doch nicht machen. Außerdem ist das ja auch nicht alleine meine Schuld. Die Krankenschwester hat ebenfalls nicht aufgepasst.

"Es ist aber dir passiert. Ich lasse da nicht mit mir reden. Ich bin der Oberarzt und ich sage was du zu tun hast."

"Ich will nicht mit Tobias arbeiten.", versuche ich es.

"Wieso das denn nicht? Ihr seid euch doch auch sonst wieder näher gekommen."

"Worauf willst du hinaus, Alex?"

Ich bin so wütend, dass ich fast zu spät sehe, dass zwei Sanitäter und zwei Ärzte mit einer Trage herein gerannt kommen. Alex packt mich am Arm und zieht mich zur Seite. Ich stolpere, aber Alex hält mich fest. Schnell befreie ich mich aus seinem Griff.
Dabei kann ich einen Blick auf den Patienten werfen und als ich sein Gesicht sehe, bleibt mir fast das Herz stehen.

DoctorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt