"Bei der postoperativen Behandlung ihres Mannes kam es zu schwerwiegenden Komplikationen. Wir haben alles in unser Macht stehende getan, aber die Reanimation war nicht erfolgreich. Es tut uns aufrichtig leid."
Die Frau reagiert ruhig. Ich weiß, dass das erst die Ruhe vor dem Sturm ist, aber immerhin muss ich dann nicht mehr dabei sein, wenn sie realisiert, dass ihr Leben nicht mehr sein wird wie zuvor. Ich sehe sie noch einmal an, dann wende ich mich zum gehen.
"Wieso sind Sie nicht gekommen?", frage ich Dr. Ricks aufgebracht, als wir wieder im Foyer sind.
"Ich hatte eine Operation.", antwortet er gleichgültig. Seine Gleichgültigkeit löst eine solche Wut in mir aus, wie ich sie von mir eigentlich gar nicht kenne.
"Der Mann ist gestorben."
"Parker, ich weiß, dass das Ihr erster Patient war und ich weiß, dass das Ihr erster Todesfall war und ich weiß auch, dass das absolut nicht einfach ist, aber mein Patient hat überlebt und hat eine Genesungswahrscheinlichkeit von über neunzig Prozent. Dem Mann war nicht mehr zu helfen, als der Herzstillstand einsetzte. Das passiert bei dieser Art von Patienten nicht oft, aber es passiert."
"Aber..", will ich einwenden, doch Ricks lässt mich nicht ausreden.
"Kein aber. Sie haben gute Arbeit geleistet. Gehen Sie in die Cafeteria oder etwas frische Luft schnappen und kommen Sie wieder wenn sie angepiept werden."
Ich widerspreche nicht weiter und folge seinen Anweisungen. Zuerst hole ich mir einen Müsliriegel am Automaten, dann setze ich mich auf eine Bank vor dem Haupteingang. Es ist bereits dunkel, aber die Straßen sind immer noch gefüllt.
"Hey."
Tobias setzt sich neben mich. In seiner Hand hält er zwei Pappbecher mit Kaffee, von denen er mir einen hinhält. Dankbar nehme ich ihn an und trinke einen Schluck.
"Was machen die Grippepatienten?"
Tobias verdreht die Augen. "Ich habe meine Hände so oft wie möglich desinfiziert. Wenn ich mich anstecke bin ich wirklich sauer. Was macht der Koma-Herz-OP-Typ?"
"Der ist tot."
"Einfach so?"
"Er hatte einen Herzstillstand. Ich habe versucht zu reanimieren, aber es hat nichts mehr gebracht."
Tobias setzt gerade dazu an etwas zu sagen, als plötzlich unsere Pager gehen. Müde hole ich ihn aus der Tasche meines Kittels. Was kann das sein? Als ob man uns, die Anfänger, am ersten Tag anpiepen würde.
"Es geht sich bestimmt um die erste Operation.", sagt Tobias aufgeregt. Wir gehen wieder in das Krankenhaus hinein.
"Weiß man schon was für eine Operation es ist?"
"In den letzten Jahren war es immer eine Appendektomie. Die werden aus jedem Anfängerteam einen auswählen.", erklärt Tobias. Dann stoßen wir auch schon auf die anderen.
"Was denkt ihr? Wer von uns wird es?", fragt Emilia.
"Also ich wohl eher nicht. Ich hatte ja nichtmals Kontakt zu Patienten.", murmelt Hannah niedergeschlagen.
"Ich bin auch raus.", füge ich hinzu. "Mein Patient ist tot."
Unsere Unterhaltung wird unterbrochen. Zwei Ärzte stellen sich nach vorne und rufen das jeweilige Team nach vorne. Ricks und Alex. Ich fühle mich beobachtet, weiß nicht, wie ich mich verhalten soll und will eigentlich nur wegrennen. Als Tobias Alex erkennt, sieht er mich irritiert an.
"Was macht der denn hier?"
Mir wird heiß und kalt. Ich gerate in Erklärungsnot. Sprachlos sehe ich Tobias an.
"Ich erkläre es dir später, okay?"
Tobias nickt und wir warten wieder still darauf, dass wir nach vorne gebeten werden. Während Dr. Ricks und erklärt, worum es geht, liegt Alex' Blick die ganze Zeit auf mir. Ich sehe stur zu Dr. Ricks. Trotzdem bekomme ich die Worte, die er sagt kaum mit, weil ich an nichts anderes denken kann, als an Alex.
Wie konnte das nur passieren? Ich habe doch alles getan, damit das nicht passiert und jetzt muss ich ihn jeden Tag sehen und er ist auch noch mein Vorgesetzter. Es ist, als hätte Alex noch etwas mehr Salz in die Wunde gestreut.
Ich war nicht über ihn hinweg, aber immerhin musste ich nicht in jeder Sekunde an ihn denken und jetzt ist er wieder da und alles in meinem Kopf überschlägt sich. Es ist, als würde eine Stimme seinen Namen rufen. Immer und immer wieder.
"Dr. Parker?", reißt Ricks mich aus meinen Gedanken. Erschrocken sehe ich auf. "Wir sehen uns in einer halben Stunde im OP."
Die beiden Ärzte gehen und wenig später mache auch ich mich auf den Weg zum Operationssaal. Ich habe mir noch ein paar Mal durchgelesen, was ich zu tun habe. Ich bin mir sicher, dass das ohne Probleme klappen wird. Ich laufe gerade durch einen Flur, als mich plötzlich eine Hand wie aus dem nichts in einen Bereitschaftsraum zieht. Es ist Alex. Er schließt die Tür.
"Dr. Lehmann.", sage ich ruhig und versuche meine Gefühle unter Kontrolle zu behalten.
"Melissa hör auf mit dem Quatsch. Wir müssen reden. Nicht heute, aber morgen. Du weißt noch nicht alles."
"Nein. Ich will es nicht wissen. Ich bin fertig mit dir, Alex. Lass mich in Ruhe."
Diese Worte zu sagen tut so weh. Es ist natürlich gelogen, aber wie soll ich sonst dafür sorgen, dass ich hier arbeiten kann?
"Die OP...", setzt er an.
Ich schneide ihm das Wort ab. "Die schaffe ich schon."
Mit diesen Worten verlasse ich den Raum und setze meinen Weg fort. Alex ruft mir noch etwas zu und will mich an etwas erinnern, doch ich verstehe nur die Hälfte und rede mir ein, dass es mir egal ist.
Ich werde jetzt operieren.Ich bereite mich auf die OP vor. Umziehen, Haare wegstecken, Maske, Waschen. Das volle Programm. Dann betrete ich den Operationssaal. Meinen Operationssaal. Die Schwestern helfen mir, mich weiter vorzubereiten. Glücklicherweise ist nur Dr. Ricks anwesend und nicht auch noch Alex. Dann wäre ich mir nämlich nicht so sicher gewesen, ob ich das überstanden hätte.
"Der Patient ist vorbereitet?", frage ich den Anästhesisten. Dieser nickt. Ich stelle mich auf die linke Seite, gegenüber von Dr. Ricks und warte auf sein Startzeichen. Um mich herum werden noch Instrumente bereitgestellt. Innerlich mache ich schon einmal die Stelle des Appendix aus. Okay, Melissa, du sollst quasi nur einen Blinddarm entfernen. Das schaffst du.
"Bereit?", fragt Dr. Ricks ruhig. Er scheint nicht mehr ganz so streng und fies zu sein wie gerade, aber vielleicht macht er das auch nur, damit ich den Patienten vor Nervosität nicht umbringe. Ich nicke.
"Dann legen Sie los."
"Zehner Skalpell bitte."
Das Instrument wird mir in die Hand gelegt und mir wird erst wirklich klar was ich hier tue, als ich das Gewicht auf meiner Handfläche spüre. Ich gehe die Schritte noch einmal im Kopf durch. Dann sehe ich zu Dr. Ricks, der mich erwartungsvoll ansieht und auf den Patienten, dessen Leben ich in gewisser Weise retten werde. Oben auf der Galerie sitzen viele Ärzte, die die Operation verfolgen. Ich versuche nicht daran zu denken, dass auch Alex dort sitzt.
Mein Blick sinkt wieder auf die Bauchoberfläche und ich setze zum Schnitt an.The first cut is the deepest.
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Doctor
Teen FictionNach der Trennung von Alex kämpft Melissa sich durchs Leben. Sie hat ihr Studium beendet und sich bei verschiedenen Krankenhäusern beworben. Als sie eine Zusage von dem Krankenhaus, in dem auch Alex gearbeitet hat, bekommt, nimmt sie ohne zu Zögern...