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Alex PoV

„Gut, das Schwierigste wäre geschafft. Saugen, bitte. Ich brauche etwas mehr Licht."

Vorsichtig ziehe ich den Tumor aus dem gesunden Gewebe und platziere ihn in der Schale, die die OP Schwester mir hinhält.

„Sehr gut. Die in der Pathologie sollen sich die Ränder genau ansehen. Ich kann hier kaum etwas sehen und weiß nicht, ob ich etwas übersehen habe.", erkläre ich und versuche irgendwie zu erkennen, aber auch der andere Lichtwinkel hilft mir nicht.

„Alex."

Als mein Bruder die Tür zum OP aufschlägt und sich nur eine einfache Maske vor den Mund hält zucke ich leicht zusammen.

„Sag mal, bist du des Wahnsinns, Nathan? Du kannst hier nicht einfach so reinplatzen, ich habe hier gerade ein offenes Gehirn vor mir. Jede kleinste Bewegung könnte diesen Menschen zum Pflegefall machen, wenn nicht sogar umbringen. Und außerdem muss das hier steril bleiben."

Alle sehen mich gebannt an. Ich kann Nathan nicht sehen, nur seinen schweren Atem hören, aber ich gehe davon aus, dass meine Worte ihn nicht verletzt haben. Er weiß, dass ich Recht habe.

„Nimm die Hände vom Patienten.", sagt er ruhig.

„Wie bitte?"

Jetzt drehe ich mich zu ihm um. Er sieht mich an, seine Brust hebt und senkt sich, als wäre er einen Marathon gelaufen. Nathan hat eine gute Ausdauer, er war schließlich Soldat. Aber so einen Blick habe ich auf seinem Gesicht noch nie gesehen.

„Leg die Instrumente weg, Alex."

Ich schenke ihm erneut einen verwirrten Blick, lege dann aber alle Instrumente auf das Tablett neben mir und hebe meine Hände langsam in die Luft, damit Nathan sehen kann, dass ich den Patienten nicht mehr berühre.

„Nathan, was zur Hölle?"

„Dr. Cora übernimmt jetzt."

„Was tust du, Nathan? Wieso?"

Seine nächsten Worte lassen das Blut in meinen Adern gefrieren und im ersten Moment weiß ich nicht was ich tun soll. Ich rühre mich nicht von der Stelle.

„Melissa hatte einen Autounfall. Sie ist auf dem Weg hierher."

Dann reiße ich mir die Handschuhe von den Händen, die Maske aus dem Gesicht und den Kittel von Körper, stopfe alles in den Mülleimer an der Türe und stürme nach unten in die Notaufnahme. Dorthin, wo die Rettungswagen ankommen. Ich kämpfe mich durch die Gänge, habe aber das Gefühl nicht vorwärts zu kommen. Ich laufe so schnell wie ich kann, aber bin doch zu langsam.
Nathan folgt mir.
Wir kommen gerade an, als die Tür des Rettungswagens geöffnet wird. Nach den zwei Sanitätern verlässt Fabian in Uniform den Krankenwagen. Hinter mir versammeln sich noch andere Ärzte, unter anderem der Chefarzt, doch ich schenke niemandem von ihnen Beachtung, denn Melissa wird aus dem Wagen geschoben und ihr Anblick bricht mir das Herz.
Sie weint.
Ich eile zu ihr, halte ihre Hand und küsse sie auf die Wange.

„Ich bin hier, okay? Melissa, ich bin hier. Es wird alles gut. Ich bin bei dir."

Ich streiche ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und versuche ihr die Tränen von den Wangen zu streichen. Ich fühle mich hilflos, lege meine Hand an ihre Wange und versuche auf sie einzureden.

„Autounfall. Verletzungen im Thoraxbereich, Verdacht auf Querschnittslähmung und Schleudertrauma. Schnittwunden und diverse Prellungen. Neuronale Verletzungen nicht auszuschließen. Patientin bei Bewusstsein aber nicht ansprechbar."

Wir bewegen uns schnellen Schrittes Richtung Eingang. Ich weiß nicht was ich fühlen und denken soll. Melissa scheint schwer verletzt zu sein. Was soll ich nur tun und wie kann ich ihr helfen? Aber ich darf ihr meine Verzweiflung nicht zeigen, ich muss für sie stark bleiben und mit ihr kämpfen.
Dabei habe ich unglaubliche Angst.
Warum habe ich nicht einfach drauf los geredet? Wenn sie das nicht überlebt wird sie die Wahrheit nie erfahren. Sie wird mich für immer hassen.
Ich kann Melissa nicht verlieren.

„Halt. Anhalten, wartet.", rufe ich, als wir gerade den Innenbereich erreicht haben. Abrupt bleiben alle stehen und sehen mich an. Ich hingegen beuge mich zu Melissa herunter.

„Sie versucht etwas zu sagen."

Jedoch kann ich nur ein Wort verstehen. Sie sagt immer wieder 'Tasche'.

„Deine Tasche?", frage ich verwirrt. „Wo ist ihre Tasche?"

„Hier." Fabian hält mir Melissa's Handtasche entgegen. Schnell nehme ich sie an mich.

„Soll ich da reinsehen?"

Von Melissa kommt keine Antwort. Sie muss Schmerzen haben.

„Okay.", schaltet Nathan sich ein. „Okay, du bleibst hier und siehst in die Handtasche und wir behandeln Melissa. Wir dürfen keine Zeit verlieren und du darfst eh nicht mit rein."

Widerwillig stimme ich zu und bleibe mit Fabian zurück, während sie Melissa in einen Traumaraum bringen. Ich öffne ihre Tasche, finde aber nur ihr Portemonnaie, Kaugummis und eine Flasche Wasser. Nichtmals ihr Handy hatte sie dabei. Ich frage mich wo sie hin fahren wollte.

„Hier ist nichts.", sage ich und fahre mit meiner Hand durch meine Haare. „Was wollte sie mir nur sagen?"

„Hast du ins Portemonnaie gesehen? Vielleicht hat sie da einen Zettel mit einer Erinnerung oder so drin. Keine Ahnung, es ist schwierig wenn man nicht weiß nach was man sucht.", schlägt Fabian vor.

Während ich den Reißverschluss aufziehe, kommt Tobias angelaufen. Fabian klärt ihn über die Situation auf, ich öffne das Portemonnaie. Und tatsächlich, da liegt ein Blatt Papier, ordentlich zusammengefaltet. Ich ignoriere die beiden neben mir und falte ihn auseinander. Geschockt betrachte ich das Bild.

„Sie ist schwanger?", entfährt es Fabian neben mir, der ebenfalls einen Blick auf das Bild geworden zu haben scheint.

„Was? Von wem?", mischt Tobias sich ein und beugt sich über das Bild in meinen zittrigen Händen.

Ja, von wem? Von Fabian etwa? Sie waren immerhin einige Woche zusammen. Geschockt sehe ich ihn an, doch er schüttelt schnell mit dem Kopf.

"Nein, wir.. Wir haben nicht miteinander geschlafen. Es ist nicht meins."

Es durchfährt mich erneut eiskalt. Die Hochzeit.

„Ich muss es Nathan sagen. Die müssen das wissen.", stammle ich vor mich hin, aber meine Konzentration lässt zu wünschen übrig.

Immer noch überfordert sehe ich auf das Bild. Ich kann meine ganzen Gedanken nicht ordnen. Erst der ganze Streit und die Missverständnisse, jetzt hatte Melissa einen Autounfall und schwebt womöglich in Lebensgefahr und wir bekommen auch noch ein Baby.
Das auf dem Bild ist mein Baby. Warum habe ich nicht mehr für sie gekämpft? Sie hätte mir doch nur einmal zuhören müssen. Wir hatten alles und haben alles verloren.
Ich kann sie nicht verlieren.

„Ich werde reingehen und es ihnen sagen." Tobias legt eine Hand auf meine linke Schulter und geht dann Richtung Behandlungsraum. Auch Fabian verabschiedet sich, denn er ist noch im Dienst und hätte wahrscheinlich gar nicht mit ins Krankenhaus fahren dürfen.

Ich bleibe alleine zurück. Im Flur der Notaufnahme, die so kurz vor Weihnachten ungewöhnlich leer ist. Mein Blick fällt erneut auf das Ultraschallbild in meinen zittrigen Händen. Dann sinke ich auf dem Boden, vergrabe mein Gesicht in meinen Händen und versuche nicht zu schluchzen, doch es gelingt mir nicht. Jetzt, in diesem Moment, weiß ich was Melissa damals meinte. Man ist nicht schuldig aber die Schuldgefühle sind trotzdem da und immer wieder die eine Frage:

Was wäre wenn?

DoctorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt