20. Kapitel

837 52 5
                                    

Panisch versuchte ich zu erkennen, wer mein Entführer war und zappelte wild herum, um loszukommen und einen Blick auf die Person zu werfen, deren Hand immer noch mit eisernem Griff auf meinem Mund positioniert war. Doch mein Versuch war vergeblich. Ich war einfach zu schwach für jede Art von Wesen, das hier unten herumschlich. Schnell verlor ich an Kraft und ließ zu, dass mich mein Entführer mit sich zog.

Wahrscheinlich war es der Graf, der bemerkt hatte, dass ich davon geschlichen war und brachte mich jetzt zurück in mein Zimmer. Oder noch schlimmer, würde mich in einen seiner Untertanen verwandeln.

Aber ich hatte mir den Grafen immer größer und kräftiger vorgestellt. Nicht so ... so klein. Dann wurde mir bewusst, dass ich dem vermeintlich mächtigsten Vampir noch nie von Person zu Person gegenübergestanden war. Nur in meinen Träumen war er mir als blasses Gesicht mit dieser wundervollen dunklen Stimme begegnet.

Ich schlug mir die Erinnerung aus dem Kopf. Er hatte mich verführt und ich würde mir nur schwer verzeihen können, dass ich ihm tatsächlich verfallen war.

Wo waren Aedan und Sophie, wenn ich sie einmal brauchte? Ich stockte. Eine überraschende Vermutung bahnte sich einen Weg in meinen Kopf. Konnte es möglich sein, dass ...

»Aedan?«, nuschelte ich unter der Hand auf meinem Mund hervor.

Mein Entführer blieb stehen und drängte mich zu einer kleinen Nische in der Wand. Den großen Saal hatten wir längst hinter uns gelassen.

»Du darfst keinen weiteren Laut von dir geben, verstanden?«, fragte eine vertraute Stimme.

Erleichtert atmete ich aus und löste meine verspannte Haltung. Dann nickte ich. Die Hand über meinem Mund löste sich. Überglücklich fiel ich Aedan in die Arme. Er war tatsächlich gekommen, um mich aus diesen Gemäuern zu befreien.

»Sophie wartet gleich um die nächste Ecke. Ich bringe dich zu ihr. Dann könnt ihr zum Ausgang vorgehen. Falls uns irgendwelche anderen Vampire aufhalten sollten, halte ich euch den Rücken frei«, flüsterte Aedan. »Egal was passiert, ihr lauft weiter, okay?«

Ich nickte erneut. Diesmal deutlich verwirrter. Die Lage schien wirklich ernst zu sein und dann kam alles auf einen Schlag in mein Gedächtnis zurück.

Wie der Graf mich gerufen hatte, wie ich aufgestanden war und mich in seine Arme habe fallen lasse. Wie er mich den Berg raufgetragen hatte und das Dorf hinter sich gelassen hatte. Die Bäume waren an mir vorbeigezogen und der stürmische Wind hatte an meinen Kleidern gezogen. Doch ich hatte nur auf das Gesicht des Grafen geachtet. Seine dunklen Augen, die porzellanartige Haut, die scharfkantigen Gesichtszüge, die schmalen Lippen, die zu einem zufriedenen Lächeln geformt waren und die seidig schwarzen Haare.

Ich hatte ihn angesehen und er mich, so als wäre ich die Einzige, die ihm Hoffnung schenken konnte. Und ich hatte mich in seinen Armen wohl gefühlt. Ich wollte, dass er mich für alle Ewigkeit festhält und mich in seine Welt bringt.

Ich musste ein paar Mal tief durchatmen, um mich zu fassen.

»Geht es dir gut, Melody?«, fragte der Vampir vor mir sichtlich besorgt. »Er hat doch nicht etwa schon ...« Schnell tastete Aedan meinen Hals ab, doch ich schob seine Hand von mir weg.

»Keine Sorge, ich bin noch vollkommen ich selbst«, flüsterte ich. »Lass uns zu Sophie gehen, damit wir so schnell wie möglich hier raus kommen.«

Aedan nickte und lief los. Ich folgte ihm durch den steinigen Gang, der ins unendliche zu verlaufen schien. Dann bog der Vampir abrupt nach rechts ab und ich wäre beinahe weitergelaufen. Im letzten Moment bog ich dann auch noch ab und lief fast in Aedan hinein, der stehen geblieben war und mit vor Schreck geweiteten Augen auf etwas vor uns starrte, das ich im Dämmerlicht nicht genau erkennen konnte. Das Einzige, was ich ausmachen konnte, waren zwei ineinandergeschlungene Schatten.

Langsam trat ich ein paar Schritte nach vorne. Sofort packte Aedan mich an meinem Handgelenk und zog mich zurück, doch in der Zeit hatte ich schon gesehen, was am Ende des Ganges vor sich ging.

Sophie, Aedans wahre Liebe, lag in den Armen des Grafens, der ihr zärtliche Worte zuflüsterte. Keiner von beiden hatte uns bemerkt.

»Aedan«, versuchte ich den Vampir, der seine Hände zu Fäusten ballte, neben mir zu beruhigen und trat vor ihn, um ihn von möglichem Unsinn abzuhalten.

»Nein, Melody«, zischte er. »Es reicht mir endgültig. Dieses Arschloch hat sich schon immer in meinen Weg gestellt. Von Anfang an wollte er mir Sophie stehlen und sie für sich gewinnen. Er hat sie verwandelt und damit mein menschliches Sein zu ewigem Leben verflucht.« Aedan drückte mich mit einem kräftigen Stoß beiseite.

Diesmal griff ich nach seinem Handgelenk. Es war eiskalt. Das hielt Aedan jedoch nicht davon ab, mich mit sich zu ziehen.

»Wie bitte?«, fragte ich. »Hast du nicht gesagt, dass du von Anfang an ein Anhänger des Clans warst? Ich nehme an, dass es allen Anhängseln verboten ist, die Vorlieben des Führers zu hinterfragen«, sagte ich lauter.

Aedan blieb stehen. »Das ... das hat mich nicht davon abgehalten Sophie zu lieben«, schrie Aedan nun fast. Mit seiner gesamten Kraft riss er sich von mir los. Ein stechender Schmerz zog sich durch meinen Arm. Der Vampir gab einen animalischen Schrei von sich, zeigte seine weißen spitzen Zähne und stürzte in Richtung des Grafen.

16. Januar 1854:
Heute Morgen wurde ich von der lieblichen Stimme meines Assistenten geweckt, der nicht nur im Traum von seiner Sehnsucht spricht. Offensichtlicher kann es gar nicht sein. Jedenfalls ist der heutige Tag perfekt dazu die Vampire ein für alle Male zu vernichten. Es ist Tag, also werde ich mit meinem Assistenten die Gruft besuchen, in dem der Herr Graf mit seinem Sohn in Särgen liegt.
Dieser Sohn ist ein ganz schön komischer Kauz. Na, ja. Jedem das Seine. Lange wird es die Vampire sowieso nicht mehr geben. Dann ist die Welt frei von den Wesen der Nacht und keiner braucht sich mehr zu fürchten. Dann wird mein Name in der Zeitung stehen und ich werde als Legende in die Geschichte eingehen. Besser könnte es nicht laufen. Ich muss mich jetzt anziehen, sonst schreitet der Tag zu schnell voran und die Vampire erwachen wieder.

Wenn der Mond erwacht (Tanz der Vampire) IN ÜBERARBEITUNGWo Geschichten leben. Entdecke jetzt