27. Kapitel

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»Hier entlang«, sagte der Hotelbesitzer deutlich gefasster als ich, als wir durch die Eingangshalle des Hotels gingen.

Hier war deutlich weniger Sonneneinstrahlung zu finden, sodass Aedan und Sophie das schwarze Tuch nicht mehr brauchten.

Herr Mayer führte uns hinter die Rezeption und schloss dann die kaum sichtbare Türe auf. Ich hatte immer vermutet, dass dahinter sein Büro liegen musste. Doch als ich zusammen mit den anderen das Zimmer betrat, wurde ich eines Besseren belehrt. Hinter der Türe befand sich nämlich kein Arbeitszimmer, sondern ein düsteres Wohnzimmer ohne irgendwelche Fenster, jedoch voller Bilder an den Wänden. Als ich genauer hinsah, erkannte ich, dass es sich um Bilder aus der Zeit handelte, in der mein Urgroßvater hier in der Stadt war. Die einzelnen Bilder waren mit Schnüren verbunden. Das mochte jahrelange Arbeit gewesen sein.

»Das bin ja ich auf dem Bild. Zusammen mit dem Professor«, stellte Aedan überrascht fest.

Sophie tippte auf ein anderes Bild. »Und das bin ich. An dem Tag, bevor ich abgehauen bin.«

»Was geht hier vor sich?«, fragte ich den Hotelbesitzer.

Dieser zog entschuldigend die Schultern nach oben. »Es ist wohl an der Zeit die Wahrheit zu erzählen.«

»Welche Wahrheit?«, wollte nun auch Vicky wissen, die den Hotelbesitzer ebenfalls skeptisch musterte.

»Es stimmt nicht, dass ich die Geschichten, die hier in der Gegend erzählt werden, für Legenden halte. Ich weiß, dass sie alle wahr sind. Ich weiß die Wahrheit schon eine lange Zeit. Mein Vater hat damals sämtliche Untersuchungen angestellt, die ich für ihn weitergeführt habe. Deine Information, Melody, war mir also nichts Neues. Und jetzt habe ich das Glück vor zwei Exemplaren zu stehen. Was für ein Fortschritt.«

»Sie hören sich ja genau wie der Professor damals an«, stellte Aedan ein wenig zerknirscht fest. »Wenn es nach uns ginge, wären wir am liebsten keins von diesen Exemplaren, so wie sie es nennen.«

»Es gibt keinen Grund wütend zu werden«, beruhigte Vicky den Vampir.

»Ich bin mir sicher, Herr Mayer hat nur gute Absichten«, fügte ich hinzu und sah den Hotelbesitzer an, der sofort anfing zu nicken.

»Natürlich, natürlich. Ich verfolge nicht im Geringsten irgendwelche bösen Absichten. Es ist mir eine Ehre euch beide kennenzulernen, nach allem, was diese Bilder über euch verraten. Ich kenne eure Geschichte nur allzu gut. Schließlich lebe ich schon fast mein ganzes Leben hier als Mensch unter den Wesen der Nacht. Eine Faszination für sich.«

Sophie sah mich fragend an. Ich zuckte lächelnd mit den Schultern. Scheinbar war der Hotelbesitzer ein echter Vampirfan.

»Warum hat das Mittel nicht gewirkt?«, fragte nun Sophie.

»Ich weiß es nicht«, sagte Vicky. »Gebt mir mal eure Schmuckstücke her.«

Die beiden Vampire übergaben ihre Schmuckstücke und ihr Aussehen veränderte sich sofort wieder. Ihre Haare luden sich wie von Zauberhand auf, ihre Haut wurde blasser, ihre Augen wilder und ihre Eckzähne länger.

Vicky inspizierte derweil die Schmuckstücke genau. »Ich kann mir das wirklich nicht erklären. Ich habe alles so gemacht, wie es im Rezept steht. Dazu habe ich es schließlich aufgeschrieben. Ich habe alles gemischt, wie vorgeschrieben. Die Zutaten bestehend aus Pflanzen ...« Vicky begann zu überlegen und die Zutaten für das Heilmittel durchzugehen. Irgendwann stoppt sie mitten im Satz und schlug sich mit der Handfläche auf die Stirn. »So ein verdammter Mist! Ich habe die Ingwerwurzel vergessen. Das Mittel konnte gar nicht funktionieren. Ich habe eine wichtige Zutat vergessen. Das tut mir schrecklich leid. Ich habe nur momentan so viel im Kopf.«

Aedan legte der aufgewühlten Frau eine Hand auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen. Im Endeffekt ist ja nichts Schlimmes passiert.«

»Machst du Witze? Habt ihr euch mal im Spiegel angeschaut?«, sagte Vicky noch aufgebrachter.

Aedan und Sophie lachten.

»Nein, haben wir nicht«, sagte Sophie. »Hast du schon vergessen, dass Vampire kein Spiegelbild haben?«

»Dann schaut doch wenigstens auf eure Hände«, forderte Vicky auf. »Überall Brandblasen.«

Aedan winkte ab. »Das ist doch nicht schlimm. Das geht schnell wieder weg. Vampire haben schnellere Heilungskräfte.«

»Dann lasst mich wenigstens ein paar Salben mitbringen, während ich dem Mittel noch die letzte Zutat hinzugebe.«

»Von mir aus«, stimmte Aedan zu.

»Heute noch aufzubrechen werden wir nicht schaffen«, informierte Vicky uns. »Wir müssen auf die nächste Nacht warten.«

Ich fing unwillkürlich an zu grinsen. Das bedeutete, dass ich doch noch das große Jubiläumsfest von Bran miterleben würde.

»Ich erwarte von euch«, Vicky deutete mit dem Finger auf die beiden Vampire, »dass ihr hier in diesem Raum bleibt und euch nicht unter die Leute mischt. Das wäre zu verdächtig.«

Sophie verdrehte die Augen. »Ja, Mama«, sagte sie.

Vicky, in ihre Gedanken versunken, drehte sich von uns weg. »Wir sehen uns heute Abend genau hier wieder.« Dann verließ sie das düstere Wohnzimmer.

»Würde es euch was ausmachen, wenn ich mir heute Abend das Fest ansehe?«, fragte ich die beiden Vampire.

»Ohne Aufsicht ist es wirklich zu gefährlich«, sagte Aedan ernst. »Was ist, wenn der Graf wieder auftaucht und versucht dich erneut zu ihm zu holen. Wir wollten extra so früh wie möglich von hier verschwinden. Aber das Schicksal hatte wohl andere Pläne.«

»Aedan?« Sophie trat dicht an ihren Freund heran und klimperte mit den Augen. »Können wir nicht auch auf das Fest?«

»Und uns Vickys Befehl widersetzen?«, fragte Aedan und zog dann lässig einen Mundwinkel nach oben. »Aber natürlich. Was hast du denn gedacht? Das ich mich an ihre Anweisung halte?«

Sophie umarmte den Vampir und ließ sich dann auf die gemütliche Couch fallen, die als einziges Möbelstück im Wohnzimmer stand. Aedan und ich setzten uns ebenfalls dazu. Herr Mayer hatte noch einige Sachen zu organisieren, bevor das Fest starten konnte.

16. Januar 1854:

Wir hatten es geschafft! Wir hatten zwei Vampire überwältigt, ihre Kleider übergezogen und uns unerkannt unter die restlichen Blutsauger gemischt. Der Graf präsentierte ihnen sodann auch seine neuste Errungenschaft, die Tochter des Wirtes, auf die alle wohl ziemlich heiß waren. Kein Wunder. Sie trug eine atemberaubende Abendrobe, die ihre damenhaften Züge nur noch mehr betonte. Aufgetakelt bis ins Unermessliche war sie. Da bekam auch mein Assistent den Mund nicht mehr zu.

Dann begann der große Tanz, auf den wir so lange gewartet hatten. War es doch die einzige Gelegenheit, bei der wir versuchen konnten, die Tochter unbemerkt aus dem Schloss zu schmuggeln.
Doch alles kam anders als gedacht. Alles wendete sich zu etwas, womit ich nie in meinem ganzen Leben gerechnet hätte.

Wenn der Mond erwacht (Tanz der Vampire) IN ÜBERARBEITUNGWo Geschichten leben. Entdecke jetzt