Unfähig auch nur irgendetwas zu tun, sah ich zu wie Aedan den Grafen von Sophie wegzog und ihn gegen die Wand schleuderte. Seine Wut verlieh Aedan eine unglaubliche Stärke. Sophie stieß einen erschrockenen Laut aus.
»Aedan!«
Ich hatte nicht mehr die Zeit ungläubig zuzuschauen, denn ich wurde unsanft am Handgelenk gepackt und nach hinten gerissen. Ich wirbelte herum. Jetzt hatten die restlichen Vampire mich erwischt! Doch anstellen eines blassen Gesichts mit spitzen Zähnen, sah ich eine interessant gekleidete Frau mit welligen fast schwarzen Haaren und vertrauenserweckenden braunen Augen.
»Wir müssen hier weg!«, flüsterte sie.
Ich nahm an, sie wollte die Aufmerksamkeit des Grafens nicht unnötig auf sich ziehen. Scheinbar war sie genauso nervös und aufgebracht wie ich. Mein Blick wanderte nochmal zu den drei Vampiren, die in ihrem Handgemenge kaum mehr voneinander zu unterscheiden waren.
»Aber was ist mit Aedan und Sophie?«, fragte ich unsicher.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Dafür haben wir jetzt keine Zeit.«
Ich blieb stehen.
»Hab keine Angst. Du kannst mir vertrauen«, sagte die fremde Frau.
Und aus irgendeinem Grund tat ich das auch. Der Griff der Frau um meine Hand wurde sanfter, fast schon kaum mehr spürbar. Mein Atem beruhigte sich und erst jetzt merkte ich die Anspannung, in der sich mein Körper die gesamte Zeit über befunden hatte. Meinem Mund entfuhr ein Gähnen. Wie eine Marionette ließ ich mich von der fremden Frau durch das Labyrinth von unterirdischen Gängen führen. Sie bedeutete mir mich leise und vorsichtig zu verhalten, denn obwohl es ihrer Aussage nach Tag war, könnte uns trotzdem ein schlafloser Vampir über den Weg laufen.
Irgendwann verlor ich den Überblick und versuchte mir nicht mehr den Weg einzuprägen. Ich würde hoffentlich nicht so schnell wieder hierherkommen.
Nach unzähligen Malen, in denen wir nach rechts und nach links abbogen, blieben wir vor einer steilen Wendeltreppe stehen, die aus diesem Loch rauszuführen schien.
»Da müssen wir hoch.« Die fremde Frau legte ihren Kopf in den Nacken. »Und ich kann dir sagen, dass das nicht wenige Stufen sind.«Die Frau behielt recht. Es schienen unendlich viele Stufen zu sein. Irgendwann verlor ich das Zeitgefühl. Ich wusste nicht mehr wie lange wir schon einen Fuß über den anderen gesetzt hatten und nach oben gestiegen waren. Mein Atem wurde immer schneller und über mir war immer noch kein Licht zu sehen. So anstrengend hatte ich mir meine Recherchen zu Beginn meiner Reise bei weitem nicht vorgestellt.
Plötzlich ertönte über mir ein dumpfes Krachen, gefolgt von einem schmerzhaften Stöhnen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich die Frau, die mir vorausgegangen war.
»Ja«, hörte ich sie zwischen zusammengepressten Zähnen zischen. »Ich habe mir nur den Kopf an der Luke gestoßen, die nach draußen führt. Sie ist aus massivem Stein«, informierte sie mich.
»Aua«, antwortete ich mitfühlend.
Deshalb war also kein Tageslicht zu sehen. Die Steinluke musste jedes Licht von draußen abschirmen. Ich hörte, wie die Luke langsam geöffnet wurde. Schon strömte mir Sonnenlicht entgegen. Meine Augen schlossen sich automatisch zu dünnen Schlitzen. Sie waren das helle Licht nicht mehr gewöhnt. Im Gegensatz zum düsteren Katakombenlicht brannte es sich förmlich durch meine Augenlider und hinterließ ein fleckiges Sichtfeld. Als sich meine Augen einigermaßen an das Licht gewöhnt hatten, stieg ich die letzten Treppenstufen empor und kletterte aus der Luke. Dort wartete die fremde Frau schon auf mich. Einen Moment hatte ich das Gefühl gehabt mir sie nur eingebildet zu haben, doch jetzt stand sie in ihren komischen bunten Klamotten vor mir und ließ die Luke zufallen. Mein Blick ließ von der Frau ab und wanderte ziellos durch die Gegend, bis ich bemerkte, wo ich mich tatsächlich befand. Ich stand ganz oben auf der Spitze des Berges, den ich bei meiner Ankunft alleine erklimmen wollte. Staunend sog ich die frische Bergluft ein. Ich stand in mitten von zerfallenen Mauern. Das musste das alte Schloss des Grafen sein, das zerfallen war, sobald mein Urgroßvater und sein Assistent sich aus dem Staub gemacht hatten. Unter mir, am Fuße des Berges, erstreckte sich das Waldstück, in dem ich auf Aedan und Sophie getroffen war. Ich hoffte inständig, dass den beiden nichts passierte. Als ich länger darüber nachdachte, wurde mir klar, dass den beiden eigentlich nichts Schlimmes passieren konnte. Sie waren Vampire, unsterblich und schon längst tot. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Mein Blick glitt über die Landschaft, die sich im Tal erstreckte. Die Wiesen und Felder und die kleine Stadt, in der sich mein Hotel befand. Ich meinte es sogar ganz winzig klein erkennen zu können.
»Der Ausblick ist wunderschön, nicht?«
Ich nickte. Das war er wirklich und die Sonne ließ alles in einem warmen goldenen Schimmer erstrahlen. Fast vergaß ich, was sich in dem Moment unter meinen Füßen, im inneren des Berges, abspielte.
»Was passiert jetzt mit Aedan und Sophie?«, fragte ich.
»Sie werden hoffentlich flüchten können. Ich bin hergekommen, um ihnen ihr Mittel zur Immunität gegenüber Sonnenlicht zu geben. Allerdings bin ich nicht bis zu ihnen gekommen. Jetzt müssen sie warten, bis es Nacht wird. Dann erst können sie gefahrlos flüchten.«
»Du kennst die beiden also.«
Die Frau nickte. »Ich habe den beiden ihre Schmuckstücke präpariert. Vampire aus aller Welt kommen zu mir, um mein Mittel zu erwerben.«
»Du stellst es tatsächlich einfach so her?«, wollte ich überrascht wissen.
»In der Tat. Ich braue das Mittel in meiner kleinen gemütlichen Hütte. Wo sie steht, darf ich nicht verraten. Es soll nicht alle Welt erfahren.«
Ich sah sie die Frau staunend an. Sie sah für mich eher wie eine Wahrsagerin aus, als eine Kräuterhexe.
»Ich heiße übrigens Vicky«, fügte sie noch hinzu.»Das freut mich«, lächelte ich sie an. »Ich bin ...«
»Melody«, vervollständigte Vicky mich. »Das weiß ich doch. Aedan und Sophie haben mir von dir erzählt. Wegen dir sind wir doch alle hier.«
»Und darüber bin ich wirklich froh«, ergänzte ich. »Die Machenschaften des Grafen können auf Dauer ganz schön gruselig sein.«
»Wenigstens ist dir nichts passiert und wir haben dich rechtzeitig gefunden. Der Graf hatte schon immer eine Vorliebe für Frauen mit einem Charakter wie du ihn hast.«
Sofort kam mir Sophie in den Sinn. Auch sie war dem Grafen verfallen. Leider konnte sie nicht rechtzeitig gerettet werden und verwandelte sich in einen Vampir. Gott sei Dank hatte sie Aedan bei sich. Mein Blick wanderte abermals über die atemraubende Landschaft. Die Sonne stand hoch am Himmel. Einige Vögel flogen über den Horizont und ausnahmsweise war mal keine einzige Wolke zu sehen.
»Wie viel Uhr ist es?«, fragte ich Vicky.
Sie sah auf ihr Handgelenk, an dem eine alt aussehende Uhr mit Lederband befestigt war. »Fast Mittagszeit. Wir sollten uns jetzt auf den Weg ins Dorf machen und etwas Ordentliches zu Essen für dich suchen.«
Ich stimmte zu, denn ich merkte selbst, dass mein Magen zu rumoren begann.
»Und den ganzen Weg müssen wir jetzt zu Fuß laufen?«, fragte ich mit einem Seufzen.
Vicky lachte. »Man hat halt nicht immer das Glück, dass ein Vampir einen in seinen Armen trägt.«
Ein Schauder fuhr über meinen Rücken, als ich an die gestrige Nacht zurückdachte.
16. Januar 1854:
Wir haben uns sodann auf den Weg zur Gruft gemacht. Ein ganz schöner Weg bis dahin, das kann ich sagen. Und mit einem schaudernden Assistenten, der sofort wieder den Rückweg antreten möchte war es ebenfalls nicht leichter für mich.
In der Gruft angekommen wurden ich und mein Assistent von zwei prunkvollen Särgen willkommen geheißen. Meine Ungeduld die Geschöpfe der Nacht zu vernichten stieg zu diesem Zeitpunkt bereits ins ungemessene. Doch durch ein unglückliches Missgeschick wurde ich aufgehalten und konnte die Vampire nicht selbst zur Strecke bringen. Das musste mein Assistent übernehmen. Er kletterte also hinunter zu den Särgen und sollte, wie ich ihm es immer beigebracht habe, den Holzpflock mit dem Hammer zwischen die sechste und die siebente Rippe schlagen. Doch der verweichlichte junge Mann brachte es einfach nicht übers Herz! Die Jugend heutzutage! Alle Angsthasen! Alles muss man selber machen. Doch ich konnte ja nicht. Ich wurde immer noch von meinem Missgeschick aufgehalten. Da habe ich die Mission abgebrochen und bin schnell mit meinem Assistenten wieder auf unser Zimmer gegangen. Es hätte noch gefehlt, wäre der Graf oder womöglich sein Sohn wachgeworden und hätte uns entdeckt.
Ich habe festgestellt, dass es noch eine sehr lange Zeit dauern wird, bis mein unwissender Assistent in meine Fußstapfen treten kann. Dabei bemühe ich mich doch immer so sehr, ihm alle meine Theorien und Methoden beizubringen.
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Wenn der Mond erwacht (Tanz der Vampire) IN ÜBERARBEITUNG
Fanfiction"Vampire?", fragte Melody. "Das ich nicht lache. Die sind doch bloß eine Erfindung meines Ururgroßvaters in seinen Geschichten. Er war Wissenschaftler. Von seiner letzten Mission kam er völlig verstört zurück und verbrachte den Rest seines Lebens in...