30. Kapitel

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16. Januar 1854:

Ein kleines Detail habe ich vergessen zu erwähnen, das mir jetzt doch als sehr wichtig erscheint. Bevor der eigentliche Tanz begann, hatte der Graf doch tatsächlich die Dreistigkeit die Tochter des Wirtes in den Hals zu beißen.

Ich habe mir nicht viel dabei gedacht. Das ganze Szenario kam mir zugegeben etwas unwirklich vor. Mein Assistent hatte schon recht gehabt sich Sorgen um die gebissene Tochter zu machen. Im Nachhinein ist man immer schlauer.

Wir ergriffen jedenfalls schnell die Initiative und versuchten beide während des Menuetts mit dem Mädchen zu kommunizieren. Der Partnerwechsel ermöglichte uns das.

Ich versicherte meinem Assistenten, dass die Tochter zwar gebissen worden ist, aber dennoch lebte. Eine richtige Bluttransfusion und ein paar Tage Ruhe, dann wäre sie wieder frisch wie der junge Morgen.

Mein Assistent und ich einigten uns auf ein Zeichen zusammen mit der Tochter den Ballsaal zu verlassen. So unauffällig wie möglich führten wir das Mädchen davon. An einem großen Spiegel vorbei. Fataler Fehler, wie mir erst spät bewusst wurde. Vampire haben nämlich kein Spiegelbild. Natürlich wurden wir sofort entlarvt. Zu dämlich. Der Anführer hetzte die Vampire auf uns.

Im letzten Moment brachte mich mein Assistent mit einem großen Kerzenständer in der Hand auf die rettende Idee. Ich schnappte mir einen zweiten und wir bildeten ein Kreuz, das die Vampire abschreckte.

Das gesamte Schloss begann zu wackeln, Teile der Decke stürzten ein. Das wütende Geheul des Grafen verfolgte uns bis nach draußen. Wir flüchteten so schnell wir konnten weit weg vom Schloss.

Nun sitze ich mitten im Schnee und schreibe. Aedan und Sophie sind wieder vereint. Besser kann es doch nicht sein, oder?

»Was sollen wir jetzt machen?«, rief ich aufgebracht. »Hier sterben alle weg!«

»Es hilft nichts«, antwortete Aedan. »Wir wissen nicht, wen von ihnen es genauso ergeht wie Sophies Vater. Vielleicht wollen sie es so.«

Am Stand hinter uns erklang immer noch Vickys hässliches Lachen. Ich hätte sie am liebsten eigenhändig erwürgt, nur damit sie am eigenen Leib erfährt, was sie gerade mit den Vampiren Schrägstrich Menschen anstellte. Nach den vielen entsetzten Lauten, die ich gehört hatte, bezweifelte ich jedoch, dass die Anwesenden den Tod herbeisehnten.

»Ich glaube nicht, dass es ihr Wille gewesen ist so schnell zu sterben. Sie wollten ihr restliches Leben genießen.«

»Ich kann wirklich nichts dagegen tun«, beteuerte Aedan.

»Giert es dich nicht auch manchmal nach Menschenblut?«, fragte ich vorsichtig. Der Vampir wollte etwas erwidern, aber ich redete konsequent weiter. »Hier hast du es. Hunderte von Menschen liegen dir wortwörtlich zu Füßen. Willst du sie alle sterben lassen?«

»Melody hat recht. Wir müssen ihnen helfen.« Schon krabbelte Sophie zu einem der wieder in einen Menschen verwandelten Vampir und begann sein Blut zu trinken.

Aedan knurrte wütend. Dann schnappte er sich einen Menschen und stieß die Zähne in seinen Hals. In Sekundenschnelle war er auch schon bei einem weiteren Gast.

Zum Glück hatten einige der Vampire den Fehler bemerkt, bevor sie das Heilmittel eingenommen hatten. Sie nahmen sich ein Beispiel an Aedan und Sophie und verwandelten ebenso einige der auf dem Boden Liegenden.

Normale Menschen sah ich keine mehr. Auch nicht an den restlichen Ständen. Die waren wie ausgestorben. Kein Wunder. Wüsste ich nicht von all der wahren Geschichte, wäre ich wahrscheinlich auch irgendwann abgehauen, weil mir das „Schauspiel" dann doch etwas zu ungewöhnlich geworden wäre. Nichts für schwache Nerven. Auch Herr Mayer war nirgendswo zu sehen.

»Ich hatte vergessen wie merkwürdig das Blut von alten Menschen schmeckt«, beschwerte sich Sophie mit Blut am Mund.

Natürlich kümmerten sich die Vampire zunächst um die rasant gealterten Menschen, denen nicht mehr viel Zeit blieb. Trotzdem waren zu wenige Vampire übriggeblieben und ich befürchtete, dass sie nicht schnell genug waren, um alle Alternden zu retten.

»Nicht reden, trinken«, spornte ich die Vampirin an.

Plötzlich stellten sich die kleinen Härchen an meinen Armen auf. Ich bekam eine Gänsehaut unter meiner eigentlich wärmenden Kleidung. Es war merklich abgekühlt. Zu schnell für meinen Geschmack. Instinktiv drehte ich mich um. Da sich viele Personen auf dem Boden tummelten, konnte ich den großen Platz vor dem Hotel gut überblicken. Aus diesem Grund sah ich auch, wie sich eine schwarze Silhouette mit rasanter Geschwindigkeit näherte. Sie löste sich elegant aus dem Nebel, der aufgekommen war. Der Graf traf ein. An seiner Seite ging ein weiterer dieser Schönlinge, mir jedoch unbekannt. Unwillkürlich begann mein Körper zu zittern. Gleichzeitig sah ich, dass Vicky die Flucht ergriff. So hatte sie sich ihren Plan bestimmt nicht vorgestellt. Sollte sie doch abhauen.

Der mächtige Vampir trat nun unter das Gemenge von Seinesgleichen und alternden Menschen. »Menschenblut, vielen Dank!«

Aus dem Nebel trat nun auch ein Teil seines Gefolges. Es waren weniger Anhänger als gedacht. Dann wurde mir bewusst, dass einige von ihnen bereits hier sein mussten. Selbst in den prächtigen Katakomben den Grafen sehnte man sich also nach einem sterblichen Leben.

»Ich habe sie hergeholt«, ertönte die Stimme von Herr Mayer neben mir. »Ich dachte hier wird ein wenig Hilfe gebraucht.«

»Vielen Dank«, sagte ich. »Sie retten gerade einen Mythos.« Dann runzelte ich die Stirn. »Sie sind ganz alleine den Berg raufgeklettert?«, fragte ich staunend.

»Nein«, wiedersprach der Hotelbesitzer lachend. »Ich habe den Grafen gerufen. Das funktioniert auch bei ihm. So wie er es mit seinen Opfern macht. Na, ja. Er hat mich wahrscheinlich selbst als sein nächstes Opfer wahrgenommen.«

»Ich dachte er steht nur auf junge hübsche Frauen. Da ist bei seiner Auswahl wohl etwas schiefgelaufen.«

»Hey, nicht so frech, junge Dame.«

Mit so einer Antwort hatte ich schon gerechnet. Ich hatte jedoch nicht mit dem angestrengten Atmen hinter mir gerechnet und schon gar nicht damit, dass der Graf mich ebenfalls für einen der zu rettenden Vampire hielt und mir seine Zähne in den Hals schlug. Es war nur der kurze Einstich, der schmerzte. Dann überkam mich eine wohlige Wärme. Die vorherige Kälte war vergessen und ich ließ mich mit einem zufriedenen Lächeln in die Arme des starken Vampirs fallen. Dieser drehte mich um, sodass er in mein Gesicht sehen konnte. Bei meinem Anblick weiteten sich überrascht seine Augen und seine Pupillen vergrößerten sich. Merkwürdig. Ich nahm plötzlich alles viel klarer wahr.

»Hast du mich vermisst?«, lallte ich in meinem berauschten Zustand.

»Melody! Ich wusste nicht, dass ... Das tut mir leid.«

Er ließ sich auf den Boden nieder und hielt mich immer noch sicher in seinen Armen. Und als ich genau in seine Augen sah, da bemerkte ich die Tiefe in ihnen und verstand plötzlich, warum Sophie so für ihn empfand. Sie hatte Mitleid mit ihm, so wie ich es nun auch hatte. Ich verstand, dass er nur ein Teil des Gefüges war. Ein Opfer der dunklen Nacht. Er wollte etwas gegen sein verfluchtes Leben tun, doch er hatte weder die Kraft noch die Lösung dafür, also blieb ihm nichts anderes übrig als das Spiel anzunehmen und sich mit seinem Dasein als Vampir anzufreunden.

Ich hörte, wie sich Aedan uns näherte. »Du elender Mistkerl. Nimm die Hände von Melody.« Er schubste den Grafen beiseite und zog mich hoch, um meinen Hals kontrollieren zu können.

»Du kommst zu spät, Aedan«, sagte ich. »Aber das ist nicht schlimm«, fügte ich schnell hinzu. »Ich kann besser sehen und besser hören. Ich fühle mich fantastisch.«

Dem Vampir, der die ganzen letzten Tagen an meiner Seite war, wich alle Farbe aus dem Gesicht.

Wenn der Mond erwacht (Tanz der Vampire) IN ÜBERARBEITUNGWo Geschichten leben. Entdecke jetzt