Es ist nicht unbedingt leicht, Skye davon zu überzeugen, mich gehen zu lassen. Nein, das ist untertrieben. Es ist mitunter eines der schwersten Dinge, die ich je in meinem Leben erreichen musste.
Sie flucht, wie ich erwartet habe. Doch sie ist gleich darauf sehr ruhig und bedacht, was ich ebenfalls erwartet habe. Aus diesem Grund ist sie mein Startpunkt gewesen. Meine Familie ist mein Anfang. Und mein Ende.
Hach, so poetisch heute wieder.
Wir verbringen den restlichen Tag bei Skye, frühstücken um die Mittagszeit herum, lassen uns von ihr Fotos meiner Eltern zeigen und ich lausche aufmerksam den Geschichten, die sie zu erzählen hat.
Papa spricht nicht mehr sehr viel über seine Mütter. Gerade in den letzten Jahren hat er sich ziemlich in die Arbeit zurückgezogen und aufgehört, zu jedem erdenklichen Moment Anekdoten preiszugeben.
»Willst du jetzt wirklich noch zwei Wochen durch die Gegend reisen?«
Mehr als ein Nicken bringe ich nicht zustande. Jonas steht draußen auf der Veranda und raucht. Skye hatte nach dem Aufstehen direkt nach seinem blauen Augen gefragt und keine Antwort bekommen. Er ist doch mysteriöser, als ich im Zug angenommen hatte. Ein würdiger Partner.
»Hat Elias dir je erzählt, wie lange es gedauert haben, bis Kassy und ich zusammenkamen?«
Bei der Erwähnung des Namens zucke ich leicht zusammen, wie sonst auch, wenn nicht ich gemeint bin. Auch Skye ist es sichtlich unangenehm, diesen Namen in meiner Gegenwart auszusprechen.
Ich weiß, dass Papa und sie riesigen Streit hatten, kurz vor meiner Geburt. Skye wollte nicht, dass er mich so nennt. Dass er den Namen weitergibt und damit ein unsichtbares Erbe auf meine Schultern drückt. Sie wusste, dass es für jedes Kind schwierig sein wird, den Namen der toten Großmutter zu erhalten.
Vermutlich wollte sie nur nicht andauernd an ihren Verlust erinnert werden, was ich sehr gut nachvollziehen kann. Allein deswegen tut es mir leid. Sie wird bald schon eine zweite Kassandra verlieren.
Skye lehnt sich auf ihrer Couch zurück und strahlt mich an. Sie ist rüstig, Jonas hat recht. Für ihr Alter ist sie erstaunlich fit und vital, das ist nach wie vor bewundernswert.
»Mein Bruder starb, ein halbes Jahr nachdem ich Kassy das erste Mal im MoonHour besucht habe. Jan war immer für mich da, er war mein bester Freund und engster Vertrauter. Er war einfach mein großer Bruder.«
Etwas, das ich nie nachvollziehen könnte, ich weiß. Ein weiterer Streitpunkt zwischen meinen Eltern und ein weiterer Grund, wieso das Verhältnis zwischen Mama und mir immer so gelitten hat. Sie wollte kein zweites Kind mehr. Vielleicht war ich ihr schon zu anstrengend, vielleicht wollte sie ja nicht einmal mich. Jedenfalls verweigerte sie es und ich blieb ein Einzelkind, umgeben von lauter Geschwisterkindern.
Sagte ich nicht schon am Anfang, dass ich ein Mädchen mit vielen Komplexen bin?
»Nach seinem Tod bin ich geflohen. Aus der Stadt«, erzählt Skye weiter. Diese Geschichte kenne ich tatsächlich nicht. »Ich wollte nicht mehr in der Stadt sein, in der ich das Leben mit ihm geteilt habe. Ich ertrug es auch eine ziemlich lange Zeit nicht, Kassy zu besuchen, obwohl ich unentwegt an sie dachte. Also stürzte ich mich in Abenteuer, vernachlässigte mein Studium und reiste in Europa umher. Es ging mir um die Aufregung, das Adrenalin, um Ablenkung. Die erhielt ich. Deshalb verstehe ich deinen Drang sehr gut. Rauszukommen, etwas anderes zu sehen. Ich verstehe, dass du Abwechslung möchtest. Bist du dir nur sicher, dass du sie auf diesen Weg erreichen möchtest? Eine Rucksacktour mit dem Wissen deiner Eltern wäre viel unkomplizierter.«
Natürlich wäre es das.
»So macht es aber mehr Spaß«, erwidere ich und versuche ein möglichst überzeugendes Grinsen zustande zu bekommen. Ich denke, Skye fühlt sich nach zu Hause an, weil sie mich immer durchschaut hat. Vermutlich liegt das an ihrer jahrelangen Erfahrung mit problematischen Kindern – immerhin war sie Sozialpädagogin durch und durch. Sie startete kurz nach Elias Geburt ein Programm, bei dem sie Pflegekinder zur Überbrückung bei sich aufnahm. Zwei davon adoptierte sie im Laufe der Jahre. So kam ich zu meinem Onkel Luca und Tante Fia.
Skye kennt sich mit Täuschungen aus, mit dem Verstecken wahrer Gefühle. Bei ihr musste ich nie jemand sein, der ich nicht wahr, sie hätte es ohnehin durchschauen können.
»Du musst deine Eltern anrufen und ihnen sagen, dass es dir gut geht. Ich lass dich hier nicht gehen, ohne dass du dich bei ihnen gemeldet hast. Am Telefon und nicht per Brief oder Textnachricht.«
»Sag du ihnen doch einfach, dass es mir gut geht.«
»Kassandra Moon.« Noch nie klang mein Name so streng, wie in diesem Augenblick. Skyes Atmung geht mit einem Mal viel schneller als vorher und ihre Adern am Hals scheinen anzuschwellen.
Nicht dass sie mir hier einen Herzinfarkt bekommt! Das kann ich jetzt wirklich nicht gebrauchen. Eine tote Großmutter ist genug an Todesfällen in der Familie.
Doch scheinbar geht es ihr blendend, abgesehen von der Wut, die sie auf mich zu haben scheint. Augenscheinlich bringe ich das gerne in Menschen hervor.
Wortlos reicht sie mir ihr Telefon und verzieht keine Miene. Ein ausdrucksloses Gesicht. Gruslig.
Ich gehe meine Optionen durch. Skye ist alt, Jonas und ich könnten schneller fliehen, als sie uns aufhalten könnte. Zumal unser weniges Gepäck ohnehin im Flur vor der Haustür steht. Wir wären schneller weg, als dass sie überhaupt reagieren könnte. Nur was dann? Ich müsste vor jeder Polizeistreife Angst haben, etwas, das ich hoffte, vermeiden zukönnen.
Eher widerwillig nehme ich ihr das Telefon ab und wähle die mir so vertraute Nummer.
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Everyday at 5AM
General Fiction»Jeden Morgen um fünf Uhr steht er auf. Er stellt die Kaffeemaschine an, er putzt sich die Zähne, holt die Zeitung herein, lässt unseren Hund Unicorn in den Hinterhof und dann kommt er zu mir ins Zimmer, um nach mir zu sehen. Jeden Morgen um fünf Uh...