Ich lasse mir Zeit mit der Reise. So viel Zeit, wie eben möglich ist. Besuche noch zwei weitere MoonHours, stehe zu lange am Fluss und bin hinterher ein Eisklotz. Esse ein richtiges Festmahl und tippe die vorletzten Sätze, die ich jemals schreiben werde.
All das fühlt sich unecht an. Etwas zu planen und es auch auszuführen, sind zwei unterschiedliche Dinge, wie ich feststellen konnte. Mich darauf vorzubereiten zu sterben, ist etwas anderes, als es tatsächlich durchzuziehen.
Angst schleicht in mir hoch. Ein bisschen, ein wenig. Noch ein kleines Insekt, das meinen Rücken hinaufkriecht und mir eine Gänsehaut verursacht. Ich hoffe sehr, dass sie so klein bleibt. Ich kenne die Angst auch als riesige Python um meinen Hals oder als Nashorn auf meiner Brust.
Doch als ich an meinem finalen Bahnhof aussteige, verschlimmert es sich nicht. Kein unangenehmes Kribbeln oder Taubheitsgefühl in den Extremitäten, kein nach Luft schnappen, keine Visionen in meinem Blickfeld. Vollkommene Ruhe umgibt mich. Vielleicht zum ersten Mal seit einer sehr langen Zeit.
Aus Mangel an besseren Alternativen packe ich meine Taschen in ein Schließfach am Bahnhof, das zwar übertrieben teuer ist, vor allem für die kurze Zeitspanne, in der ich es benötige, doch zu meinem jetzigen Ziel kann ich das Gepäck nicht gebrauchen.
Der Bahnhof ist riesig, sollte mich einschüchtern und tut es nicht. Ich kenne ihn, vielleicht sogar besser als mein eigenes Zuhause. Vor einem Jahr absolvierte ich hier ein Praktikum in der Buchhandlung, einfach um hier sein zu können. An dem Ort, an dem An- und Abreise so einfach wirkt. An dem es kein Stehenbleiben gibt, sondern nur Weiterlaufen. Kein Zurück, sondern nur das Vorwärts. Immer weiter, immer weiter weg.
Bahnhöfe und Flughäfen haben eine eigene Magie an sich, einen Zauber, den nur die Menschen verstehen, die von einem anhaltenden Fernweh gepackt sind. Menschen, die nichts mehr an Ort und Stelle hält, die liebend gerne woanders und überall und nirgendwo wären. Menschen, die mir sehr ähnlich sind.
Aus meiner Tasche krame ich einige Münzen, die ich seit Tagen aufhebe. Ist nicht besonders schwer, Kleingeld anzusammeln. Schwerer ist es, es wieder loszuwerden.
Am Bahnhof steht zufällig noch ein Münztelefon, eines der wenigen, die es noch in der Stadt gibt. Gut, wer braucht auch schon Telefonzellen, wenn heutzutage auch schon jedes vierjährige Kind ein Smartphone besitzt? In unserer Zeit ist ein Münztelefon ein uraltes Relikt. Etwas, das ich zu gerne mit nach Hause nehmen würde, um es neben den Schallplattenspieler und die Schreibmaschine zu stellen. Ich steh eben auf alte Sachen.
Mit einem Kopfschütteln reiße ich mich selbst aus den Gedanken. Wo soll das noch hinführen, wenn ich den ganzen Tag hier verbringe, in einer stinkenden Ecke des Bahnhofs, umgeben von geschäftigen Reisenden und vor sich hin schlurfenden Bettlern. Ich habe noch etwas vor, an meinem letzten Tag als Minderjährige. Zuvor muss allerdings noch etwas anderes erledigen.
Also werfe ich das Geld in das veraltete Ding, wähle die erste Nummer, die ich je gelernt habe, und warte auf das stetige Tuten. Passe meine Atmung dem gleichmäßigen Geräusch an, konzentriere mich nur noch darauf und versuche meine Umgebung auszublenden.
»Moon?«
»Hi Mama, ich bins.«
Schweigen. Schon wieder habe ich mit mehr gerechnet. Gerade von ihr. Von ihr habe ich ganz andere Dinge erwartet, als diese unheimliche Stille, die meine Minuten und somit auch mein Geld frisst.
»Mama, bist du noch dran?«
»Ich muss eine ziemlich schlechte Mutter sein, was?«, bricht sie ihr Schweigen und das kleine Insekt auf meinem Rücken wächst nun doch.
»So ist das nicht«, will ich erklären, immerhin habe ich mir die Worte schon zurecht gelegt, habe geplant, was ich zu sagen habe. In welchem Tonfall. Sie soll sich keine Sorgen machen, aber auch nicht außen vor bleiben. Sie soll das Gefühl haben, dass auch sie mir wichtig ist. Sie muss.
»Ich wusste schon immer, dass du mit Elias ein besseres Verhältnis hast, das war okay«, spricht sie weiter, ungeachtet meines Einwurfs. Diese Stimme kenne ich nicht von ihr. So eine Kälte kenne ich nicht. Nicht von meiner Mutter. Nicht von der genialen Johanna Moon, die trotz der schwierigen Kindheit und der komplizierten Jugend etwas aus sich gemacht hat. Die studiert hat und ihre Prüfungen kurz vor meiner Entbindung abgelegt hat. Johanna Moon, die sich immerzu gut um Papa und mich gekümmert hat, sich all unsere stupiden Ideen anhörte und nur mit den Augen rollte, wenn davon mal wieder eine schief gegangen war.
»Doch jetzt bist du abgehauen. Hast uns hier sitzen lassen. Du hast deinem Vater das Herz herausgerissen, ist dir das klar? Du bist sein Schatz, du bist alles für ihn. Verdammt, Kassandra, er würde mich eintauschen, wenn er dafür dich haben könnte!«
Python. Python. Python.
Um meinen Hals.
Jetzt.Sie schluchzt. Sie schluchzt! »Auch damit komme ich irgendwie zurecht, wir beide stehen einfach nicht so eng zueinander, was meine Schuld ist. Die Umstände deiner Geburt waren … schwer. Wir wollten dir immer davon erzählen, aber … das ist jetzt kaum die richtige Zeit.«
»Mama«, bringe ich atemlos hervor und presse meine Hand gegen die Scheibe links von mir. Eigentlich ist das hier keine Zelle, sondern eine Box. Eine offene, die keine Tür hat. Vielleicht besaß sie einmal eine, wer weiß. Vielleicht war sie auch mal glänzend und ganz und nicht so kaputt wie jetzt. Vor langer Zeit war sie vielleicht nicht beschädigt, nicht beschmiert und verseucht. Vielleicht gab es eine Zeit, als man sie mochte und geliebt hat. Wie sie es verdiente. In der man sie wertschätzte und nicht wie Abfall behandelte.
»Tut mir leid für meinen Tonfall.« Tatsächlich klingt sie wieder wie meine Mama. Kühl, aber noch immer mit einem Unterton Herzlichkeit. Vielleicht … »Wir sehen uns dann wohl morgen zu deiner Geburtstagsfeier. Komm bitte pünktlich sonst ruft Elias noch die Kavallerie.«
Damit legt sie auf. Bevor ich noch ein Wort herausbringen kann. Bevor ich mich entschuldigen kann. Bevor ich ihr sagen kann, dass ich sie liebe. Immer getan habe. Bevor ich ihr sagen kann, dass es mir leid tut.
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Everyday at 5AM
Ficção Geral»Jeden Morgen um fünf Uhr steht er auf. Er stellt die Kaffeemaschine an, er putzt sich die Zähne, holt die Zeitung herein, lässt unseren Hund Unicorn in den Hinterhof und dann kommt er zu mir ins Zimmer, um nach mir zu sehen. Jeden Morgen um fünf Uh...