#19

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Wir verbringen nicht viel mehr Zeit in der Stadt. Ein paar Sehenswürdigkeiten, eine weitere Nacht in dem Hotelzimmer und in den frühen Morgenstunden, noch vor Sonnenaufgang, sind wir wieder verschwunden.

Da mir auffällt, dass ich mein Reisetagebuch vernachlässige, benutze ich die kommende Zugfahrt, um das nachzuholen. Jonas schläft ohnehin mal wieder, kaum dass sein Hintern den Sitz berührt und bevor ich drei Stunden damit zubringe, ihn dabei zu beobachten, wie Speichelfäden aus seinem Mund fallen, nutze ich meine Zeit lieber sinnvoll.

So war es immerhin gedacht. Ich wollte meine Reise festhalten. Dabei fällt mir auf, dass ich meinem Zeitplan leicht hinterherhinke. Wie nicht anders zu erwarten war, wenn ich ehrlich zu mir selbst bin. Die Reise zu Skye hat schon länger gedauert, als ursprünglich von mir geplant und auch Jonas verschlingt mehr Zeit, als ich mir selbst am Anfang der Fahrt zugemutet habe.

Nicht dass das etwas ändern wird. Notfalls kürze ich meine Reiseroute um ein zwei Städte. Darum ging es mir nie. Es war mir nur immer wichtig, etwas zu sehen. Solange das gewährleistet ist, ist alles in Ordnung.

Unser nächster Stopp ist mir dafür umso wichtiger. Jonas Laune scheint allerdings mit meiner freudigen Erwartung immer weiter zu sinken.

»Wusstest du, dass die beiden Türme des Doms einen Höhenunterschied von vier Zentimetern messen?«

»Ist ja interessant.«

»Der Südturm ist -«, ich unterbreche mich selbst. Scheint es nur mir so, als würde Jonas Laune immer noch missmutiger und missmutiger, je näher wir unserem Ziel kamen? Ich kann ja auch nichts dafür, dass wir ausgerechnet zu einem Ort direkt um die Ecke des Doms müssen. Jonas scheint nicht so auf riesige Plätze zu stehen, was die Fragen in meinen Kopf nur vervielfacht. Und einige auch beantwortet. Es ist schön, wenn das Puzzlebild eines Menschen immer aussagekräftiger wird. Als hätte ich ein Whiteboard in meinem Kopf, auf dem ich die verschiedenen Informationen zusammensuche und verbinde.

Vielleicht wäre ich gut bei der Polizei aufgehoben gewesen, wenn nicht mein anderer Plan dazwischengekommen wäre. Im Rätsel-Raten war ich schon immer gut.

»Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich dich alleine lassen, ja?«, fragt Jonas in die Stille hinein. Nun, in die Stille zwischen uns. Um uns herum ist es alles andere als ruhig, immerhin ist es Feierabendzeit, die Straßen sind voll und sich hier durchzudrängeln ist selbst für mich Großstadtkind eine Herausforderung.

»Ähm, klar.« Ich runzle zwar die Stirn und versuche damit ein Zeichen zu senden, doch Jonas scheint den Hinweis nicht mitzubekommen. Oder er ignoriert meine Grimasse absichtlich. Beides sehr gut möglich.

Trotzdem lässt er mich stehen und spaziert in die andere Richtung los. Schnell in der Masse verschwunden. Erst nachdem ich ihn vollkommen aus den Augen verliere, realisiere ich, dass er mich genau an meinem Zielort abgesetzt hat.



»Nein, Maria, es ist mir nicht möglich bis morgen zu warten. Ich habe die neuen Tische für heute bestellt und nicht für morgen ... Ja, sehr gern ... Nein, Maria ... Heute, nicht morgen. Sonst suche ich mir ... Sagte ich nicht, dass das möglich sein wird?«

Er sieht nicht einmal annähernd so aus, wie ich es in Erinnerung habe. Wow, manchen Menschen macht das Alter aber auch gar nichts aus. Oder, wie Tante Pennie immer zu ihm sagt: Attraktive Menschen kann nichts entstellen, nicht einmal die 60 Jahre auf seinen Schultern.

»Babydoll, du kannst ruhig hereinkommen, ich beiße immer noch nur, wenn du das unbedingt von mir verlangst«, ruft er mir zu und einen Moment bin ich unschlüssig, ob er tatsächlich mich meint.

Babydoll ist jetzt nicht unbedingt der beliebte Spitzname für mich. Dabei habe ich schon so ziemlich alles gehört, besonders aus dem familiären Umkreis. Fast scheint es, als wollen alle unbedingt vermeiden, mich mit Namen anzusprechen.

Woran das wohl liegen mag.

Okay, okay. Ich unterlasse den Sarkasmus schon wieder.

»Maria«, führt er das Telefonat weiter und wendet sich wieder von mir ab.

Da die Fensterscheiben mit braunem Papier verhangen sind, ist es recht dunkel hier drin, was aber dem Ort nicht die Atmosphäre nimmt. Die Wände, die in einem dunklen Blau gestrichen sind, sind mit lauter kleinen Löchern versehen und bei näherer Betrachtung erkenne ich den Gedanken dahinter. Die Lichterketten, die am anderen Ende des Ladens noch in ihren Verpackungen liegen, werden wohl von hinten eingeführt.

Was eine seltsamecSatzstellung von mir ist.

»Ich frage mich immer noch, wieso du ausgerechnet zu mir kommst.«

Er will einen Nachthimmel darstellen, ganz klar. Es ist noch nicht ansatzweise fertiggestellt, doch die Idee dahinter begeistert mich.

»Ich gehöre ja nicht unbedingt zu deiner Familie, nur weil ich deine ... Oma geschwängert habe. Oder deine Großtante. Ich verstehe diese Generationsbeschreibungen immer noch nicht so ganz.«

Es ist nicht schwer, von dem Namen MoonHour auf ein Nachtcafé zu kommen und doch ist es das erste dieser Art, glaube ich. Allzu genau habe ich das nie mitbekommen, was ich gerade im Begriff zu ändern bin. In jeder Stadt, zu der es mich hinführt, gibt es ein MoonHour. Eins der Vermächtnisse meiner Großmutter. Und auch wenn ich sie nicht alle besuchen kann, so werde ich es doch immerhin versuchen.

»Lucian an Miss Moon?«

Erst jetzt fällt mir auf, dass er mit mir spricht.

»Hi«, bringe ich hervor und winke ihm zu. Wenn ich jetzt sage, dass dieses Treffenvseltsam ist, benutze ich dieses Wort mal wieder zu oft, aber es beschreibt die vergangenen Tage einfach so perfekt.

»Die kleine Miss Moon«, sagt Lucian, von dem ich nicht einmal den Nachnamen kenne und drückt auf einen Knopf an einer Fernbedienung, die er aus seiner Jackettasche zieht. Prompt erstrahlt hinter der riesigen Theke ein Mond mit den klassischen Uhrzeigern. »Es kommen einfach nicht genug Moons vorbei, damit ich diesen Trick öfter einbauen kann.«

Everyday at 5AMWo Geschichten leben. Entdecke jetzt