Die Nacht verbringe ich noch in einem Hostel in der Nähe des Bahnhofs, packe am nächsten Morgen meine Taschen und realisiere erst spät, dass heute mein Geburtstag ist.
18 Jahre bin ich jetzt alt.
18 Jahre bin ich auf dieser Welt.
So viel und gleichzeitig so wenig.Nein, ich fühle mich auch nicht anders. Geburtstage verändern uns ja nicht, mich zumindest nicht. Da ändert ein Tag auch nichts daran.
Wer wohl schon alles an mich gedacht hat und mich erreichen wollte? Meine alten »Freunde« aus der Schule vielleicht? Leute in den sozialen Netzwerken, die daran erinnert werden und aus Langeweile ein »Alles Gute« an meine Seite richten? Meine Familie wird heute bei uns aufschlagen und da sie wissen, dass ich heute erst heimkomme, werden sie erst spät bei auftauchen.
Diana hingegen wird durchdrehen, weil sie mich nicht erreichen kann. Sie wird … Ich kann es mir nicht vorstellen. Sie plant den Geburtstag seit Jahren und ich bin mir nicht sicher, ob sie wirklich etwas organisiert hat für heute Abend. Anbieten würde es sich ja, immerhin ist es Samstag. Der Tag der Feierwütigen.
Vielleicht hat sie es auch vergessen. Nicht vergessen-vergessen, sondern einfach den Plan beiseite gelegt. Ohne mich macht die Party immerhin keinen Sinn. Wäre besser so.
Es ist noch viel kälter als sonst, das Wetter schließt sich auch heute meinem Zustand an und lässt Kübelweise das Wasser vom Himmel fallen. Kein Wunder, dass ich ewig brauche, bis ich mit meinen eiskalten Fingern den Schlüssel hervorziehe, den ich von Lucian bekommen habe.
Der eigentliche Grund für meinen Besuch, den Gefallen, den er mir tun musste. Immerhin hat er als Partner von MoonInc. jegliche Schlüssel zu allen Räumlichkeiten. Ganz besonders zu dieser hier.
Das originale MoonHour ist schon seit Jahren geschlossen. Kurz nach meiner Geburt gab es hier ein kleineres Feuer, die Umstände sind mir nicht ganz bekannt. Ich weiß nur, dass Papa die Schäden nie reparieren ließ – aus welchen obskuren Gründen auch immer.
Ist er sonst so vernarrt, ließ ihn das hier kalt. Die Schäden zu beseitigen wäre nicht einmal besonders aufwändig, das weiß ich. Und merke ich, als ich den Laden betrete, dessen schwarzen Rollläden seit jeher heruntergelassen sind. Nur das ehemals 24-Stunden leuchtende »MoonHour Café« über der Ladenfront erinnert noch an das Prachtstück, das sich im Innern verbirgt.
Der Ladenbereich ist vollständig eingerichtet und abgesehen vom Staub habe ich das Gefühl, es könnte jeden Moment geöffnet werden. Tische und Stühle stehen ordentlich an Ort und Stelle. Sie sind nicht einmal abgedeckt, um vorm Verfall beschützt zu werden.
Meine Füße hinterlassen dicke Spuren im Staub und Dreck der vergangenen Jahre. Unmöglich. Unfassbar. Es geht mir nicht in den Kopf, wie man das hier leerstehen lassen kann. Genau das hier, dieser Ort, ist doch Geschichte. Unsere Geschichte, auf die alle sonst so viel Wert legen. Und jetzt ist es einfach vergessen, verdrängt?
Seufzend sehe ich mir die Theke an. Die große Glasvitrine, die Regale mit all den bunten Tassen und Gläsern dahinter. Damals gab es unser Logo noch nicht, weswegen die Wand hinter der Theke noch einfach eine Wand ist. Nur eine große Uhr hängt dort, dessen Zeiger auf 21 Uhr gestellt wurden. Zufall kann das nämlich nicht sein. Das Bildnis passt sehr gut. Als wäre die Zeit hier stehengeblieben. Für immer eingefroren.
Erst in der Küche bemerke ich überhaupt die Auswirkungen des Feuers. Über einem der Backöfen sind schwarze Schliere, ein Brandfleck an der Wand und an der Decke zeigen die Zerstörung. Jedoch nichts, was nicht schnell wieder behoben hätte werden können.
Mein Autorengehirn kann nicht anders, es stellt sich den Laden in vollem Glanz vor. Wie mein Papa als Kleinkind hier herumrennt und Kassandra Senior voller Stolz am Ofen steht und die nächste Fuhre Cupcakes hervorholt.
Es fällt mir nicht einmal schwer.Durch Erzählungen weiß ich, dass hinter einer der drei Türen der Küche der Hausflur steckt, von dem aus man ganz einfach zu der Wohnung über dem Café gelangt. Das ganze Haus gehört meiner Familie, früher haben Papa und meine Großmütter hier gelebt. Noch ein Stück Familie und somit der perfekte Ort, um mich von der Welt zu verabschieden.
Skurril, aber passend.Da ich entgegen meiner Vorstellung nicht beim Friseur war, mache ich das Beste aus dem vorhandenen Material. Ich gehe duschen, ziehe mir das Kleid an, das ich extra für diesen Anlass gekauft habe und schminke mich dezent. Einzelne Strähnen meines Ponys sind zu ungleichmäßig gewachsen und fallen mir in die Stirn und bleiben an meiner Brille hängen.
Doch heute werde ich sie nicht zurückbinden und auch keine Kontaktlinsen einlegen. Heute bin ich Kassandra Moon, wie meine Familie mich am allerbesten kennt.
Kaum fertig tippe ich die letzten Wörter in mein netbook, entferne das Passwort, damit die Nachwelt an meine Daten kommen kann und ziehe die Laken von dem Bett. Die Wohnung sieht genau so aus, wie ich sie mir vorgestellt habe. Klein und gemütlich. Gerade passend für eine kleine Familie oder ein Pärchen.
Gerade passend für mein Vorhaben.
Mir fehlt die Emotionalität, nicht wahr? Es ist zu kalt, wie ich gerade bin, wie ich mit dem Thema umgehe. Doch anders habe ich das nicht erwartet. Es steht schon so lange fest, ich habe es schon so lange geplant und an die Ausführung gedacht. Habe über Probleme nachgedacht, die ich umschiffen muss. Es konnte kaum etwas schiefgehen und das ist es auch nicht, zu meinem Glück.
Das hier ist nur das Ziel, die Schlusslinie.
Ich hatte bisher nie angenommen, dass ich gefühlsduselig werde in meinen letzten Minuten. Dafür bin ich nun wirklich nicht der Typ Mensch. Mir schießen keine Erinnerungen vor mein geistiges Auge, ich bereue nicht, dass ich zu diesem Entschluss kam. Ich denke nicht an meine Familie – außer dass ich jetzt gerade doch tue. Doch ich breche nicht in Tränen aus und versuche verzweifelt noch jemanden zu erreichen.
Nein, das bin ich nicht. So handle ich nicht.Ich setze mich nur auf das Bett, hole meine Tasche dazu.
Das ist das Ende. Das ist mein Ende.
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Everyday at 5AM
General Fiction»Jeden Morgen um fünf Uhr steht er auf. Er stellt die Kaffeemaschine an, er putzt sich die Zähne, holt die Zeitung herein, lässt unseren Hund Unicorn in den Hinterhof und dann kommt er zu mir ins Zimmer, um nach mir zu sehen. Jeden Morgen um fünf Uh...