»Das nennst du auf die Zeit fixiert?«, druckst er und setzt sich wieder hin, was mir ein erleichtertes Seufzen entlockt. Ich habe nichts gegen Nervosität, aber sein Rumgehopse bringt mich auf Gedanken, die ich noch ein paar Tage unterdrücken muss.Nicht dass ich Zweifel hätte. Ich habe schon vor über einem Jahr diesen Plan gefasst und seither reichlich Zeit gehabt, um ihn zu ändern oder ganz abzusagen. Doch jedes Mal, wenn ein Meilenstein auf meiner Liste hinzukam, war ich mir sicherer und sicherer.
Ich habe mein Abitur bestanden, wie ich es mir vorgenommen hatte. Mit meinem letzten Freund habe ich Schluss gemacht und es nicht einmal bereut. Ich habe meinen letzten Roman geschrieben. Ich habe ein letztes Mal Weihnachten gefeiert, habe einige schöne Tage mit meiner Familie verbracht und das vergangene Jahr so gut genutzt, wie ich konnte.
Es ist nicht so, dass ich ein Zeichen hinterlassen werde. Außerhalb meiner Familie wird niemals jemand wissen, wer ich bin – wer ich war. Keiner wird meinen Namen kennen, es sei denn Papa kommt auf die irrsinnige Idee irgendetwas nach mir zu benennen. Niemand wird Kassandra Moon Junior kennen, wenn es doch Kassandra Moon Senior gab. Eine Frau, die so viel erreicht hat.
Minderwertigkeitskomplexe, was sind das?
Manche Menschen sind nun einmal nicht dafür da, lange zu leben und viel zu erreichen. Denke ich mir. Zumindest ich bin es nicht.
Ich weiß, wie schwer es fällt, mir das zu glauben. Wie schwierig es ist, hinter meinem Lächeln und meinen ganzen positiven Sätzen und Einstellungen ein Mädchen zusehen, das nicht mehr leben möchte. Doch eigentlich ist das ganz einfach, denn ich weiß zwar, wie ich mich verhalten muss, aber es zu fühlen ... Ich fühle mich schon lange wie eine Schauspielerin, die einfach nur das tut, was alle erwarten. Ich lache, wenn etwas witzig ist. Ich schaue betrübt, wenn mir etwas trauriges erzählt wird. Ich bin still, wenn es angebracht ist und ich bin laut, wenn das erwartet wird.
All das ist eine perfekt inszenierte Maske, die ich in den vergangenen Jahren verdammt gut einstudiert habe.
Dabei weiß ich nicht einmal, wieso. Ich bin nicht eines Morgens aufgewacht und war mit einem Mal depressiv. Es fühlt sich auch noch immer seltsam an, zu sagen, dass ich Depressionen habe. Vielleicht stimmt das ja gar nicht. Ich war noch nie bei einem Psychologen, um das feststellen zu lassen. Ich bin einfach ... nichts. Es ist schwer, etwas richtiges zu fühlen. Es ist schwer, jeden Tag aufzustehen. Es ist schwer, durch den Tag zukommen, ohne mental zusammenzubrechen. Es ist schwer, beim Überquerender Straße nach links und rechts zu schauen oder vom Rand der Klippe zurückzutreten oder beim Schwimmen nicht einfach den Mund zu öffnen. Es ist schwer, an jedem einzelnen Tag.
Nein, einfach aufgestanden bin ich nicht. Es war ein schleichender Prozess und alles, was mir seither passiert ist ...
»Du verschwindest oft gerne mal in deinen Gedanken, was?«
Der Unbekannte grinst schon wieder und kratzt sich am Hinterkopf, sodass mein Blick auf eine gezackte Narbe an der Unterseite seines Armes auffällt.
Er wird nie erfahren, wovor er mich gerade gerettet hat.
»Wohin bist du eigentlich unterwegs?«, frage ich und lehne mich zurück. Ablenkung, das brauche ich jetzt. Nur noch wenige Stunden, bis ich in dem kleinen süßen Kaff bin, in dem sie sich zurückgezogen hat. Dann ist der erste Schritt getan.
Und dann tut der Unbekannte etwas, mit dem ich nicht gerechnet habe. Er zuckt mit den Schultern.
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Everyday at 5AM
General Fiction»Jeden Morgen um fünf Uhr steht er auf. Er stellt die Kaffeemaschine an, er putzt sich die Zähne, holt die Zeitung herein, lässt unseren Hund Unicorn in den Hinterhof und dann kommt er zu mir ins Zimmer, um nach mir zu sehen. Jeden Morgen um fünf Uh...