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»T-17, auch wenn der Tag erst seit wenigen Stunden angebrochen ist. Seit sehr wenigen. Ich bin mir noch immer unsicher, ob das Schreiben dieses Tagebuchs eine gute Idee ist, jedoch sollte es doch festgehalten werden, nicht wahr? Die Geschichte. Meine Geschichte. Immerhin muss irgendjemand irgendwann einmal verstehen, wieso i«

Mitten im Wort werde ich unterbrochen, als mein Laptop umgeklappt wird. Mir war gar nicht bewusst, dass ich hier draußen auf der Terrasse nicht alleine bin. Dass Jonas neben mir sitzt und mich mustert. Seine Sonnenbrille hat er abgelegt, nachdem Skye mit ihrem Vortrag fertig war und sich an ihre Gastgeberrolle erinnerte. Sie bot ihm etwas zu essen und trinken an, führte ihn in ihre Küche und ließ mich somit allein.

»Deine Großmutter ist nett«, sagt er jetzt und gähnt leise, mit vorgehaltener Hand. Manieren hat er ja zumindest.

Ich lege das Notebook neben mich und ziehe die Beine an, um mich so klein wie möglich zu machen. Noch so ein Tick, den ich seit Kindheit an besitze. Papa zog mich immer damit auf, wie klein ich mich machen könnte und dass ich wohl für immer seine Kleine bleiben würde. Schade dass jeder einmal groß wird.

»Tut mir leid, dass der Empfang von ihr nicht so nett war.«

Jonas zuckt mit den Schultern und schweigt. Scheint noch immer seine Lieblingsbeschäftigung zu sein. Was mir erneut Zeit gibt, ihn zu mustern. Ohne seltsame Brille diesmal.
Selbst in der Dunkelheit, die nur durch die Lichter des Hauses hinter uns durchbrochen wird, sticht sein blaues Auge hervorragend gegen sein sonst blasses Gesicht hervor. Für einen Schläger hätte ich ihn bisher nicht gehalten, aber dass man sich in Menschen täuschen kann, ist ja nichts Neues mehr.

Wir lügen und betrügen und täuschen und hintergehen, wann immer wir die Möglichkeit dazu haben. So sind wir Menschen. So sind viele Menschen. Da bilde ich keine Ausnahme. Doch habe ich dieses Talent perfektioniert, habe nicht nur meine alltägliche Maske ausgebaut, sondern noch so viele andere. Habe den Lehrern etwas vorgemacht und mir bessere Noten erschlichen, habe meine Freunde immer hinters Licht geführt und ihnen die Kassandra gezeigt, die sie sehen wollten. Ein lange gespieltes Spiel, das mir zu viel wurde. Wie mir alles zu viel wurde, besonders nach dem Schaden, den es anrichten kann. Nach dem Schaden, den ich angerichtet habe.

Kurz macht mein Herz einen kleinen Sprung – zumindest fühlt es sich so an. Das sichere Zeichen, dass ich mich zu tief zurückziehe, zu weit abdrifte, meine Gedanken zu abtrünnig werden.

Ein Taubheitsgefühl macht sich in meinen Beinen breit und ich löse mich aus meiner Position, um für mehr Durchblutung zu sorgen. Immer diese Gedanken. Irgendwann bringen sie mich nochmal um. Ha ha.

»Ich habe vor, mich umzubringen.«

»Wenn du mir das jetzt gesagt hast, damit ich dich davon abhalte, mach dich auf eine Enttäuschung gefasst. Ich kenne dich nämlich nicht und ehrlich gesagt bist du mir relativ egal.«

Ein Lächeln stiehlt sich auf meine Lippen, als ich den Kopf schüttle. Er hat es ernst gesagt, ohne Anflug eines Grinsens. Es ist auch sein Ernst.
Überraschend und nicht die Reaktion, mit der ich gerechnet hätte.

»Ich wollte nur, dass du weißt, mit was für einer Verrückten du dich eingelassen hast.«

Er schnaubt. »Das wusste ich schon, als du mich im Zug so lange angestarrt hast und mich als völlig Fremden zum Haus deiner Renter-Oma gebracht hast.« Kurz schweigt er und auch mir fehlen die Worte. Es ist das erste Mal, dass ich jemanden davon erzählt habe. Zumindest jemand echten, der mir gegenüber sitzt. In den letzten Wochen habe ich in einem ziemlich miesen Forum mit einigen Gleichgesinnten geschrieben. Menschen, die dasselbe durchmachen, wie ich. Menschen mit demselben Ziel.

Es jetzt einer echten Person zu sagen, meine Stimme zu hören, die diese Worte ausspricht ... Seltsam.

»Wann willst du es machen?«, fragt er und die Kühle seiner Stimme finde ich immer merkwürdiger.

Hallo, hier sitze ich, ein noch minderjähriges Mädchen. Auf der Terrasse ihrer Großmutter, neben einem Wildfremden, den sie im Zug aufgeschnappthat und erzählt, dass sie sich umbringen will. Und seine einzige Reaktion ist es, nüchterne Fragen zu stellen?

Ich habe mich geirrt, Jonas würde einen fürchterlichen Romanhelden abgeben.

»In 17 Tagen«, antworte ich schlicht. Er muss ja nicht sofort erfahren, dass ich so klischeehaft bin und meinen Geburtstag als großen Tag ausgewählt habe. »Davor wollte ich noch zwei, drei Dinge sehen und tun.«

»Die da wären?«

Also weihe ich ihn ein. Erzähle ihm meinen Plan, gehe meine Liste durch. Er hört mir aufmerksam zu, sagt kein Wort, während ich meinen Monolog halte. Nicht dass ich das erwartet hätte. So langsam scheine ich ihn recht gut einschätzen zu können.

Jonas, der Wildfremde. Der mir ungeheuer gefährlich werden könnte. Er könnte mich verraten, Skye alles erzählen, die Polizei verständigen, mich umbringen und zerhackstückeln. Gut, letzteres erscheint mir unwahrscheinlich, aber weiß man was in den Köpfen mancher Menschen los ist?

Zum Glück nicht.

Ich weiß, wieso ich ihn eingeladen habe, mitzukommen. Nur seine Beweggründe erscheinen mir noch immer unklar. Was auch nicht weiter schlimm ist. Ich genieße einfach weiterhin das Nicht-Alleinsein, solange es anhält.

»Kann ich dich begleiten?«

Everyday at 5AMWo Geschichten leben. Entdecke jetzt