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[A/N: Herzchen, was soll ich groß sagen. Das Jahr ist bald vorbei, ich hoffe, ihr kommt gut in 2018 an. Deswegen direkt zwei Kapitel für euch. Und sie sind etwas besonderes, denn sie sind das Beinahe-Ende. Die letzten Worte der jungen Kassandra Moon ❤
Nicht mehr viel, Herzchen. Dann habt ihr es geschafft und ich mit euch xD.]

Lasst euch gesagt sein, dass es nicht angenehm ist, sich in einer öffentlichen Bahnhofstoilette so in die Panik zu steigern, dass man keine Luft mehr bekommt, woraufhin man zu husten anfängt, was wiederum in weitaus widerlicheren Dingen endet.

»Gegen den ekligen Geschmack im Mund«, sagt eine Schwangere, kaum dass ich die Kabine verlasse. In ihrer Hand hält sie Eukalyptus-Bonbons, von denen ich gern einen nehme.

»Sie kennen sich vermutlich aus.« Vorsichtig versuche ich mich an einem Lächeln, doch es sieht wohl ziemlich gequält aus, ihrem Grinsen nach zu urteilen.

»Versuch besser nicht, gut drauf zu sein, wenn du es nicht bist. Ist Gift für die Seele.« Dabei streicht sie sich liebevoll über den Bauch und wendet sich ab.

Noch eine Sache, die ich an Bahnhöfen so liebe: Diese kurz währenden Begegnungen. Niemand interessiert sich für jemanden. Das höchste der Gefühle könnte ein schiefer Blick an einen besonders Betrunkenen sein. Es ist so einfach, in der Menge unterzugehen. Was mir gerade recht kommt.

Kaum dass ich mich wieder einigermaßen unter Kontrolle habe, flüchte ich aus dem stinkenden, Urin-verseuchten Bahnhofsklo. Zielstrebig kämpfe ich mir meinen Weg durch das geschäftige Treiben, vorbei an Pendlern und Bettlern und Urlaubern. Vorbei an all den Bahnsteigen, die ich liebend gern betreten würde, wenn ich ehrlich bin.

Wegzulaufen hat mir gut getan, das weiß ich. Nur würde es das auch auf Dauer? Dieses Risiko kann ich nicht eingehen, nicht so kurz vor meinem Ziel.

Kaum sitze ich in der Ubahn überfällt mich dieses Gefühl nach Zuhause. Hier kenne ich mich aus, hier weiß ich, wohin ich muss, welcher Bus mich zu welcher Bahn bringt. Etwas Vertrautes. Mein Plan ist gelungen, so viel steht fest.

Womit mein Plan nicht gerechnet hat, ist das bescheidene Wetter. Bevor ich noch im Regen stehe, gebe ich übertrieben viel Geld für einen kleinen Schirm bei einer Drogerie aus und überlege, ob ich nicht schnell eine Bahnstation weiterfahren soll, um in der Innenstadt anständige Gummistiefel zu kaufen. Ist vielleicht keine so dumme Idee, immerhin ist das Gassigehen mit Unicorn bei dem Wetter auch nicht gerade angenehm und -

Mitten im Gedanken stoppe ich mich und halte auch physisch mitten im Weg an, was mir ein genervtes Stöhnen von einer Passantin beschert.

Denke ich gerade an das Gassigehen mit meinem Hund, den ich nie wieder sehen werde? In naher Zukunft? Was ist nur los mit mir?

Bevor ich weiter über solche unsinnigen Dinge nachdenken kann, laufe ich zügig weiter, überquere die riesige Straße und bleibe vor dem Gittertor stehen.

Das große Schild mit den Öffnungszeiten begrüßt mich und ich frage mich, aus welchem Grund dieser Ort hier Öffnungszeiten braucht. Haben die Toten Besuchszeiten, in denen man sie besser stören kann als zu anderen Zeiten? Gehen hier in manchen Monaten die Geister und Zombies um? Oder sind sie einfach zu geizig, um für ausreichende Beleuchtung zu sorgen?

Da ich erst wenige Male hier war und das auch schon viele Jahre zurückliegt, habe ich zunächst Probleme, den richtigen Gang zu finden. Ist ja auch nicht so, als würde unser Hauptfriedhof unzählige Abzweigungen besitzen und mehr Gräber als ich jemals zählen könnte. Wie soll man sich da im Regen noch auskennen, zumal alles von Laub und Dreck umgeben ist?

Letztendlich finde ich allerdings die richtige Reihe, finde das Grab, zu dem Papa mich früher öfter mitgenommen hat, bevor Mama ihm nicht mehr erlaubte, mich mitzunehmen, weil sie vermeiden wollte, dass ich zu sehr in einer Vergangenheit hing, die ich nicht selbst erlebt hatte.

Sie hat einen schlichten Grabstein bekommen, mit ihrem Geburts- und Sterbedaten, sowie ihrem vollständigen Namen.

Zarah Kassandra Moon

Hätte Papa mich nicht Zarah nennen können? Nach dem Namen, der ihr so verhasst war und bei dem nicht jeder zwingend an sie denken musste?

Ganz nah am Boden, knapp über den weißen Kieselsteinen, die auf der Erde ausgelegt waren – pflegeleichter, hat Papa das genannt. Das Grab mit Kieselsteinen und einer riesigen Platte vollzustopfen, auf dem Blumenkübel stehen, ist pflegeleichter als ein normales Erdgrab, bei dem man sich um Unkraut kümmern musste – stand nur noch eine Zeile. Fein eingraviert.

Jeden Tag um 21 Uhr, Liebling.

Ich weiß nicht, woher dieser Spruch kommt, nur dass er wohl von Skye stammt. Ein weiteres Geheimnis, das niemand mit mir zu teilen gedenkt.

»Ähm. Hi«, bringe ich hervor, wohl wissend wie befremdlich das gerade ist.

Sie ist tot. Meine Großmutter, die Heilige, sie ist tot. Schon seit einer sehr langen Zeit. Trotzdem stehe ich jetzt hier und unterhalte mich mit einem Stein, in der Hoffnung, dass ... ja, Kassandra. Welche Hoffnung hegst du eigentlich? Und wieso, zur Hölle, sprichst du in deinen Gedanken schon mit dir selbst?

»Du kennst mich nicht, außer es gibt einen Himmel und du schaust auf uns herunter. Denn du musst im Himmel sein, so wie dich alle beschreiben und loben.« Ein tiefer Atemzug. »Vielleicht gibt es da oben ja Besuchsrechte für die Hölle, denn dort komme ich mit Sicherheit hin, wenn man dem Christentum glaubt. Suizidler sind im Himmel wohl nicht sehr gern gesehen ...
Es ist so schwer, deinem Antlitz gerecht zu werden, ist dir das klar? Sie alle reden von dir, als hättest du das achte Weltwunder entdeckt oder ein Heilmittel erfunden oder die Menschheit vorm Aussterben gerettet oder eine Alieninvasion verhindert. Sie heben dich auf ein Podest, auf das kein normaler Mensch jemals kommen könnte und das ist nicht fair, uns Normalsterblichen gegenüber.«

Schon so viele Male, wie ich darüber nachdachte, und erst jetzt fällt mir auf, wie wütend ich tatsächlich bin. Es auszusprechen, macht es noch viel realer als sowieso schon.

»Dein Sohn erwartet von mir, dass ich so wundersam bin wie du, aber das bin ich nicht. Meine Mutter hingegen erwartet scheinbar nichts von mir, weil sie maßlos enttäuscht von meiner bloßen Existenz ist.
Ich bin umgeben von Menschen und fühle mich trotzdem allein. Ist das noch normal? Ich glaube nicht. Ich sollte nicht krank sein, aber das bin ich. Eigentlich sollte es mir gut gehen und ich sollte Spaß am Leben haben, als fast Volljährige. Ich sollte feiern und glücklich sein, weil ich eine so große Familie habe. Aber aus irgendeinem Grund bin ich es nicht und meine Familie fühlt sich eher wie eine Bürde an.
Gerne würde ich Erwartungen entsprechen, wäre gerne normal, doch ich bin es nicht. Da ist eine Stimme in meinem Kopf, die es mir nicht erlaubt, die mir andauernd einflüstert, wie falsch und wertlos ich bin. Dass ich eine Belastung bin und dass ich mich zusammenreißen muss, vor allen anderen. Dass ich nicht um Hilfe bitten darf und dass mir sowieso keiner helfen kann.
Du kennst das nicht, nehme ich an. Du kennst es nicht, wenn man seine eigene Existenz nicht versteht, nicht begreifen kann, nicht haben möchte.
Glaub mir, wenn ich sage, dass ich gerne mit dir tauschen würde, wenn ich könnte. Es wäre doch viel besser, wenn du als Kassandra Moon wieder die Erde beläufst, statt mir. Es würde allen besser gefallen, da bin ich sicher. Schade dass ich solche Handel nicht eingehen kann. Ich wüsste zumindest nicht, an wen ich mich wenden sollte.
Jedenfalls wollte ich mich bei dir verabschieden, selbst wenn das keinen Sinn macht, da wir uns nicht kennen. Ich hätte dich gerne gekannt.
Mach es gut. Vielleicht begegnen wir uns ja im Jenseits, wenn es nicht durch Gut und Böse getrennt ist.«

Damit hab ich auch meine letzte Aufgabe erfüllt. Bleibt nur noch eines. Das allerletzte Ziel meiner Reise.

Everyday at 5AMWo Geschichten leben. Entdecke jetzt