Brief 15

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Lieber Elias,

ich weiß, dass es für dich schrecklich wirken muss, so alt zu werden. In der Jugend hält man Dreißigjährige für alte Rentner, die ihr ganzes Leben schon hinter sich haben.

So sah ich das auch, glaub mir. In meiner Kindheit hielt ich die Freunde meiner Eltern für spießige Steinzeitmenschen, mit ihren Steuerrückzahlungen und normalen Jobs und Kindern und Hypotheken und Elternabenden.

Ich hatte aus diesem Grund riesige Panik davor, selbst 30 zu werden. Skye fand das sehr amüsant, weil sie nicht verstand, wieso ich als rational denkender Mensch mit einem Mal zu solchen Gedankengängen fähig war.

Dann wurde ich 30. Und nichts veränderte sich. Natürlich nicht, immerhin ist das vorher auch nie passiert. Aber ich wurde nicht über Nacht zu einer Spießerin. Ich verwandelte mich nicht in die Normalbürgervariante eines Menschen. Ich blieb, wie ich war. Ein ruhiger Mensch mit einem chaotischen Leben. Was zum größten Teil deiner Mum zu verdanken war. Und natürlich dir.

Mein Liebling,

nicht jeder hat die Möglichkeit alt zu werden. Wir sollten jedes Jahr nutzen, egal auf welche noch so kleine Weise. Wir sollten es nicht verfluchen, alt zu werden, sondern begrüßen.

Wir alle werden nur einmal 30. Das ist kostbarer, als dir jetzt im Moment klar sein kann, doch du wirst es verstehen.

Ich liebe dich,
Kassy.

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