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Die kommenden fünf Tage habe ich mehr Spaß, als ich mir – eher uns – je zugetraut hätte. Der Albtraum eines jeden Menschen ist es wohl, mit völlig Fremden unterwegs zu sein und man versteht sich nicht. Nichts ist schlimmer in solch einer Situation. Doch das passiert bei uns gar nicht. Von Tag Eins an verstehen wir uns prächtig, was zum größten Teil Ella zu verschulden – verdanken – ist, die meistens die Stimmungsbringerin ist.

Selbst wenn sie zuviel trinkt und mich damit immer wieder erstaunt. Dafür raucht Jonas seit ihrer Ankunft mehr. Die beiden haben eben auch ihre Laster, wer wäre ich, wenn ich ihnen das übel nehmen würde.

Gleichzeitig ist Jonas um ein Vielfaches verspannter, obgleich er es war, der uns zusammenbrachte. Mittlerweile ist es klar, dass er sie liebt, so wie sie ihn. Mein Leben hat sich in eine kitschige Teenie-Romanzen-SitCom verwandelt, wie widerlich. Und zeitgleich auch irgendwie süß. Vielleicht wird das meine letzte Aufgabe auf Erden, die beiden zusammen zu bringen. Dann hätte ich immerhin was Sinnvolles damit angestellt.

»Also, noch acht Tage und unzählige MoonHour Cafés übrig, wie willst du das schaffen?«, fragt Ella beim Kauen und schmiert ihre mit Soßen verdreckten Finger an Jonas Jacke ab, was ihn mädchenhaft aufkreischen lässt.

Ihre Dynamik erinnert mich tatsächlich an die von Geschwistern, was es um einiges schwerer macht, sie zu beobachten. Mit Pärchen habe ich kein Problem, mit Geschwistern hingegen ...

Witzig war, dass Ella beinahe sofort meine Verbindung zu den MoonHour Cafés hergestellt hat, während Jonas im Dunkeln tappte. Er kennt meinen Nachnamen und ist trotzdem ahnungslos gewesen.

»Es gibt ja auch nicht nur eine Familie Müller in Deutschland«, war seine Ausrede, woraufhin Ella und ich ihn einen Moment lang schweigend ansahen.

»Weil Moon und Müller ja auch vergleichbar sind, du Volldepp«, war ihre Antwort, der ich nur zustimmen konnte.

Überhaupt, seitdem die beiden dabei sind, kann ich mehr schweigen und schreiben. Immerhin muss ich noch etwas zu Ende bringen, bevor ich es ... nun ja, zu Ende bringe.

»Ich will ja nicht jedes MoonHour besuchen. Es ist nur ein netter Nebeneffekt, auch für meine Familie.«

Zweifel erscheinen auf ihrem Gesicht. »Ein netter Nebeneffekt? Ich bezweifle, dass sie es kümmert, dass ihr Dynastieerbe die Dynastie besucht hat, bevor sie das Erbe für immer kaputt gemacht hat.«

Fast will ich ihr erklären, dass wir keine Dynastie sind, weil wir kein Adelsgeschlecht innehaben, doch das würde genauso wenig bringen, wie sie zu bitten, sich nicht mit den Schaffnern in den Zügen anzulegen, weil sie immer ein gesamtes Abteil blockiert.

Es ist nicht schwer, hinter die Fassade zu blicken, die sie so krampfhaft und gleichzeitig so spielerisch aufrecht erhält. Es ist bemerkenswert, wie einfach es ist, die Masken anderer Leute zu entdecken. Vielleicht weil Gleichgesinnte sich untereinander immer erkennen.

Was ich aber von Ella gehört und nicht gesehen habe, ist Jonas Geschichte. Von dem kaputten Elternhaus, zu dem er dennoch regelmäßig zurückkehrt, obwohl alle ihm davon abraten. Von der Mutter, die ihn regelmäßig mit Sachen verprügelt. Von seinem Wunsch, es besser zu machen und von seinen Versuchen, etwas mit ihr anzufangen, die sie verweigert. Nur über den Gitarrenkoffer schweigt Ella beharrlich.

»Ich will einfach etwas zurücklassen«, versuche ich zum hundertsten Mal zu erklären. Ella interessiert sich, entgegen ihres anfänglichen Desinteresses, doch ziemlich für mich.

»Dann leb noch zwanzig Jahre länger und du kannst viel mehr hinterlassen.«

Nicht das erste Mal, dass sie dieses Argument anbringt und es ist auch nicht das erste Mal, dass ich es ignoriere.

Sie versteht die Depressionen, was mich zuerst erstaunt hat. Bis ich sie das erste Mal habe schlafen sehen. Oder eher hören. Sie ist von Albträumen gepackt worden, was zu einer Panikattacke geführt hat. Für Jonas nichts Neues, der sie umgehend in den Arm genommen hat, obwohl das auf den ungemütlichen Sitzen des kleinen Regionalzuges gar nicht so einfach war.

Ella darunter leiden – und schweigen – zu sehen, macht mich zugegebenermaßen traurig. So viele, die leiden. Unerkannt. Eine traurige Welt, in der wir leben.

Jonas, der erstaunlich viel geschwiegen hat, seitdem wir uns etwas zu essen besorgt haben, schüttelt nur mit dem Kopf und schmeißt die Verpackung seiner Pizzatasche weg. Noch nie hat er sich in diese Gespräche eingemischt, weswegen ich ihm dankbar bin. Er hat mir am Anfang versprochen, dass er mich nicht versuchen wird abzuhalten und daran hält er sich. Auch wenn Ella nicht unbedingt versucht, mich zu stoppen. Sie wirft nur ihre Zweifel ein.

»Ich meine ja nur«, beendet sie ihre heutigen Ausführungen, »Ich würde anders reagieren, wenn ich wüsste, dass ich Erbin eines Imperiums wäre.«

Würden das nicht alle?

»T-7 Tage, bis ich Geburtstag habe. Die Zeit vergeht unerwartet schnell, wenn man Freunde dabei hat.

Freunde, irrtümliche Bezeichnung für Jonas und Ella. Oder nicht? Ich weiß nicht, wie ich sie nennen soll, denn sie sind so viel weniger und so viel mehr. In gewisser Hinsicht kennen sie mich jetzt besser als Diana und zeitgleich wissen sie nicht einmal meine Lieblingsserie. Kann man sich einem Menschen gleichzeitig nah und doch fern fühlen? Scheinbar.

Egal wie sehr Ella versucht, mir ins Gewissen zu reden, ich lasse diese Gedanken nicht zu. Oder eher lässt mein Kopf sie nicht zu. Es ist frech von ihr, sich immer wieder einzumischen. Ich frage sie ja auch nicht, woher die ganzen Narben auf ihrem Oberkörper kommen, die sie sicherlich nicht selbst verursacht hat. Ich frage sie auch nicht, wieso sie nur duschen geht, wenn Jonas im Hotelzimmer ist, als würde sie befürchten, dass ich die Tür Schwarzenegger-mäßig eintrete und ihr etwas antue.

Vermutlich hat sie genau davor Angst.

Ich werde es nicht ansprechen, niemals. Aber eine posttraumatische Belastungsstörung zu haben, scheint scheiße zu sein.

Vielleicht hilft ihr unser Beisammensein, so wie es mir hilft.
Vielleicht fühlt sie sich nicht mehr ganz so allein.
Vielleicht, vielleicht,vielleicht.«

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