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Wir verbringen den restlichen Morgen damit über meine Reiseziele zu sprechen. Darüber zu reden, fühlt sich verrückt an und meinen Plan laut auszusprechen, wird wohl nie nicht seltsam sein. Aber immerhin ist es das letzte Mal, dass ich darüber reden muss.

»Das ist langweilig«, ist Jonas letztes Urteil und er drückt eine Zigarette im feuchten Boden aus. Er raucht nicht viel, muss ich feststellen. Zum Glück.

»Langweilig?«

Er nickt. »Es ist dein Abschied, oder nicht? Wieso beschränkst du dich auf so lächerliche kleine Sachen, wie das Besuchen von Städten, die du schon immer einmal sehen wolltest? Wieso nicht Abenteuer erleben, Dinge von der To-Do-Liste streichen?«

Vielleicht weil ich keine To-Do-Liste habe?

Das spreche ich natürlich nicht laut aus, aber es ist die Wahrheit. Während meine Freundinnen früher von ihren perfekten zukünftigen Leben träumten und davon, was sie alles einmal tun wollten, verarbeitete ich meine Träume in meinen Büchern.

Ich schrieb über Prinzessinnen, die vor Monstern gerettet wurden und von Rockerbräuten und Strebern. Ich schrieb davon, den höchsten Berg zu besteigen und eine Bank auszurauben. Von Abenteuern in fremden Ländern, die ich selbst nie bereisen würde und von Menschen, die ich nie sein könnte.

Das ist das Tolle am Schreiben. Man kann sein, wer man will und wie man will. Man kann ins All reisen, ohne seinen Schreibtisch je verlassen zu müssen. Chefköchin sein und im wahren Leben Wasser anbrennen lassen. Wildkatzen zähmen und daheim bei Tieren kreischend wegrennen.

Meine Abenteuer fanden alle in Sicherheit, auf dem digitalen Papier statt und nie hatte ich vorgehabt, sie in die Realität umzusetzen.
Ich will jetzt nur etwas sehen, bevor ich ging. Ein paar Leute besuchen, die ich lange nicht mehr gesehen hatte. Solche Dinge.

»Wäre ich du, ich würde mich eine Nacht hemmungslos betrinken und sehen, wohin es mich führt. Oder zum höchsten Punkt einer belieben Stadt gehen und irgendwelche obszönen Dinge hinunterbrüllen.«

»Ich bin aber nicht du«, erwidere ich schnell und streiche meine Haare zurück hinter die Ohren. Einer der letzten Ziele ist es, einen Friseur aufzusuchen. Ziemlich eitel, aber ich will so gehen, wie man mich in Erinnerung behalten soll.

Jonas erhebt sich langsam von seinem Platz neben mir und streckt gähnend seine Beine. Selten verging Zeit so schnell wie hier. Die Sonne ist aufgegangen und steht schon recht hoch, ohne dass einer von uns davon Kenntnis genommen hätte. Zu sehr waren wir ins Gespräch vertieft.

Während ich noch sitzen bleibe, versuche ich mich auf den Garten zu konzentrieren, auf den Ausblick. Das tun Menschen doch, die wissen, dass sie nur noch kurz zu leben haben. Sie versuchen alles intensiver wahrzunehmen. Jeden Moment in sich aufzusaugen.


Vielleicht bin ich deswegen fort. Zuhause gibt es keine Möglichkeit solche Momente zu sammeln. Der täglich gleiche Trott an jedem Tag des Woche, des Monats, des Jahres.

Papa steht jeden Morgen um fünf Uhr auf, bereitet sich seinen Kaffee zu und lässt Unicorn in den Garten, bevor er einen Blick in mein Zimmer wirft. Das macht er seit Jahren, zuverlässig wie ein Uhrwerk.

Ich vermisse es.

»Ich hab noch einen Vorschlag, Sandy.«

»Ich heiße Kassandra.«

»Nein, das klingt nicht nach einer depressiven Selbstmörderin. Sandy passt besser«, korrigiert er mich mit einem Augenrollen. »Wir fahren zu deinen Zielen und tun auch, was du tun willst. Aber an jedem Punkt der Reise erledigen wir eines der Dinge, die ich gern tun würde. Und zwar zusammen.«

»Was hast du davon?«

Ein Schulterzucken. Dann noch eins.

»Ehrlich, Jonas, was hast du davon?«

»Jeder hat so seine Geheimnisse, oder nicht? Du verrätst mir nicht, wieso du überhaupt sterben willst, ich verrate dir nicht, wieso ich dich begleite. Wir geben ein gutes Team ab.«

Bevor ich noch einmal protestieren kann, geht er an mir vorbei zurück ins Haus, das still hinter uns liegt. Skye verschläft die meisten Tage, weil sie nachts aktiv ist. Was mir sehr vertraut vorkommt.

Noch einmal denke ich an meinen Vater, der nie wieder am Morgen mein Zimmer betreten kann, um nach mir zu sehen. Und zum ersten Mal kommen mir Zweifel, ob ich das Richtige tue. Ob ich nicht einfach übertreibe. Ob ich mir nicht Hilfe suchen sollte. Es ist immerhin der Tod. Da gibt es keinen Rückzug, keine Umkehrmöglichkeit. Das ist endgültig und für immer.

Dann fallen meine Gedanken zurück zu ihren üblichen Mustern. Es ist besser. Es ist der einzige Weg. Es wird so besser sein. Es muss.

Everyday at 5AMWo Geschichten leben. Entdecke jetzt