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Dinge, die ich in wenigen Minuten feststellen kann, wenn man sich die Mühe macht jemanden kennenzulernen:

- Der Unbekannte heißt Jonas
- Er ist 21 und wohnt sogar in meiner Stadt
- Er kann gar keine Gitarre spielen, weigert sich aber zu sagen, wieso er dann einen Gitarrenkoffer mit sich herumträgt
- Er musste von Zuhause fort, auch diese Gründe erklärt er nicht
- Er hat einen schrecklichen Musikgeschmack

»Aber du musst doch irgendein Ziel haben. Jeder hat eines. Man steigt nicht einfach in einen Zug und schaut, wo man rauskommt.«

Das Konzept ist mir fremd und suspekt. Nicht nur ist es reichlich riskant – und ja, gerade ich spreche von Risiken im Bezug aufs Leben – es ist auch unüberlegt und chaotisch. Gut, er hat weniger zu verlieren, er ist volljährig. Doch es ist dennoch reichlich dumm.

Da wir uns dem Zielbahnhof nähern, greift Jonas nach oben, holt seine Habseligkeiten herunter und tut mir denselben Gefallen. Was ich auf der Liste ergänzen könnte: Er ist nett. Vielleicht wäre er in meinem Roman nicht der BadBoy, sondern der nette Nachbarsjunge, den alle Mädchen immer nur als Kumpel sehen, bis sie seinen wahren Wert einschätzen können.

»Macht das Leben so nicht viel mehr Spaß?« Ich verdrehe die Augen und er kichert. »Diese Lebensphilosophie habe ich eigentlich von meiner Tante übernommen. Sie ist früher mit einem Cadillac durch die Welt gefahren und war nie wirklich sesshaft. Ich hab sie erst spät kennengelernt, als sie dann schon spießig geworden ist, aber ich höre ihr gerne zu, wenn sie von ihren Abenteuern erzählt.«

Der Blick in seinem Gesicht kann ich nur als verträumt bezeichnen. Auch wenn ich seine Augen nicht sehen kann, sieht man es. Man sieht das Fernweh, die Sehnsucht nach etwas anderem, etwas Neuem. Ich kenne den Blick selbst, habe ihn immer wieder bei Mama gesehen, die selbst davon geträumt hat, die Welt zu bereisen.

»Deswegen machst du ihr jetzt nach?«

Ja, ich hake nach. Ich bin nun einmal ein sehr neugieriger Mensch, was kann ich dafür? Keine Ahnung, ob das die Schriftstellerin in mir ist oder einfach Genetik. In meiner Familie bleibt nichts lange ein Geheimnis.

Na ja. Außer man ist wirklich gut im Verstecken.

Jonas schüttelt den Kopf, lässt mir den Vortritt raus aus dem Abteil.

Allmählich wird es wirklich dunkel draußen und ich überlege, ich mir jetzt ein Hotel nehmen sollte, in dem ich die Nacht verbringen kann, bevor ich weitergehe. Von hier müsste ich noch einen Bus nehmen, der um die Uhrzeit nicht mehr fährt. Dank der einen Stunde Verspätung und der vierstündigen Verzögerung auf der Strecke ist die Bahn jetzt mit Sicherheit ganz oben auf meiner Liste mit Lieblingstransportdiensten.

Danke. Für nichts.

»Ich bin nicht so cool wie sie.« Wieder ein Kopfschütteln. Ob er sich die vermehrten Gesten angewöhnt hat, weil man seine Mimik nicht lesen kann? »Immerhin hat die Frau blaue Haare und ist Privatdetektiv gewesen, dagegen komme ich niemals an.«

»Na, ein mysteriöser Junge mit einem mysteriösen Gitarrenkoffer in einer Bahn ohne Fahrtziel – Klingt schon ziemlich cool.«

Nicht so cool wie ein 0815-Mädchen mit einem Netbook im Gepäck, auf dem sie ihre Geschichte festhält, das in einer Bahn sitzt, mit dem Ziel noch ein paar Punkte auf ihrer Liste abzuarbeiten, bevor sie die Welt verlässt. Das kann nun wirklich keiner toppen. Und dass ich Witze machen kann, ist der Beweis, dass ich damit abgeschlossen habe. Keine Angst lähmt mich, keine Schuldgefühle, keine Zweifel. Ich weiß, was ich will. Auch wenn mich das zu einem Monster macht und ich nicht verstanden werde. Noch nicht. Das wird sich ändern. Bald.


Keine halbe Stunde später stehen wir am Bahnhof, vermeiden es uns anzusehen und stehen im Neonlicht der Lampen des Bahnsteiges. Die anderen Passagiere, so wenige wie es waren, sind alle schon verschwunden. Zurückgeblieben sind nur wir. Seltsamerweise will ich nicht, dass er geht. Es ist nicht so, dass ich mich unsterblich in ihn verliebt habe und jetzt von ihm gerettet werden will. Nein, wirklich nicht. Doch ich möchte nicht alleine sein, was der einzige Logikfehler in meiner Planung dieser Reise war. Denn sobald ich alleine bin ... fressen meine Gedanken mich bei lebendigen Leib auf.

Ich wäre nicht gut genug. Ich bin nicht hübsch, nicht schlau, nicht engagiert, nicht einfühlsam, nicht fleißig, nicht talentiert genug. Ich bin nicht genug Tochter, Patentante, Freundin, Schülerin. Ich bin nicht genug, um mich zu lieben, wirklich von Herzen und nicht nur, weil man das eben so tut. Weil sie es müssen. Ich bin nicht genug. Werde niemals genug sein.

»Jonas, Lust noch ein bisschen mit mir abzuhängen?«, frage ich aus diesem Grund, ohne es zu bereuen. »Ich würde mich über Gesellschaft freuen.«

»Führt den Weg, Mylady. Irgendwas an dir riecht nach Abenteuer und das ist doch immerhin mein Bestreben.«

Wenn ich gewusst hätte, wie einfach es ist, rauszukommen und an etwas anderes zu denken, vielleicht hätte ich schon vor Jahren abhauen müssen.

Everyday at 5AMWo Geschichten leben. Entdecke jetzt