Rekapitulieren. Muss ich. Dringend.
Es ist Nachmittag, als ich das nächste Mal erwache, mit weitaus weniger schlimmen Kopfschmerzen und das Gefühl, gleich wieder zur Toilette rennen zu müssen, ist ebenfalls verschwunden. Auch meine Gedanken scheinen wieder klarere Züge anzunehmen.
Das Telefonat mit Diana hat mir zugesetzt. Sehr sogar. Es ist schwer, sich einzugestehen, dass man nicht gebraucht, nicht gewollt ist. Es ist schwer ... daran erinnert zu werden.
Dass ich zu viel getrunken habe, war mein Fehler, nicht Ellas. Das weiß ich. Trotzdem hat sie es schamlos ausgenutzt, oder viel eher Jonas, der sie hätte stoppen können, wenn er gewollt hätte.
»Wie lange seid ihr schon ein Paar?«
Meine Frage durchbricht jetzt nicht unbedingt die Stille im Zimmer, denn Ella hat den Fernseher angeschaltet und schaut sich irgendeine Reality-Show an, die so wenig mit der Realität zu tun hat, wie die Märchen der Gebrüder Grimm.
Trotz meines Zustandes sind mir die Anzeichen nicht entgangen, Papa wäre stolz auf mich. Die Art, wie sie miteinander reden, sagt schon viel aus. Dass Jonas als Erstes in die Bar wollte, in der sie arbeitet, sagt den Rest. Dass hier seine Heimat ist, war auch nicht schwer zu erraten, so gut wie er sich hier auskennt. Er glaubt, er ist so mysteriös, mit seiner Sonnenbrille und dem Gitarrenkoffer, aber so geheimnisvoll, wie er es gern hätte, ist er einfach nicht. Im Grunde ist er auch ein Plappermaul wie ich, nur auf eine andere Weise.
»Wir sind kein Paar«, kommentiert Jonas beim aus dem Badezimmer kommen und rubbelt mit einem kleinen Handtuch seine Haare trocken.
Duschen zu gehen ist keine dumme Idee, auch wenn ich dankenswerterweise nicht nach Erbrochenem rieche. Oder aussehe.
»Danke Ella«, werfe ich meiner Frage hinterher, ohne auf Jonas einzugehen. »Du hast recht, ich muss mich bei dir bedanken.«
Sie dreht sich nicht zu mir um, doch das selbstgefällige Grinsen auf ihrem Gesicht sehe ich auch von der Seite größer werden.
Jetzt, bei Tageslicht, ist sie auch nicht mehr so undurchsichtig, wie ich vergangene Nacht annahm. Ich bin kein Detektiv, ich kann nicht in Menschen lesen, doch ich bemerke viel. Autorenkrankheit eben. Es fällt mir leicht, Menschen einzuschätzen, wie wir wissen, und bisher lag ich bei Jonas auch nicht sehr falsch.
»Er ist mein Bruder. Nun, mein Pflegebruder. Wir sind in derselben Pflegefamilie gewesen.«
»So viel zum Thema, dass wir nichts darüber erzählen.« Jonas scheint frustriert. Oder er seufzt einfach nur gerne theatralisch, bevor er sich aufs Bett wirft.
Es ist zu viel für mich. In diesem Moment. Ob sie Geschwister sind oder nicht, ist mir egal. Wieso sie da sind, spielt ebenfalls keine Rolle. Aber sie sind da und in meinem Kopf geht es schon wieder rund.
Die Gedanken fahren Achterbahn, all meine unterdrückten Emotionen versuchen einen Weg nach oben zu finden. Ich sagte ja schon, dass das oft passiert und ich das nicht immer zurückschieben kann. So oft, wie ich schon Heulattacken in der Öffentlichkeit bekommen habe, bei denen ich mich schnellstmöglich in eine dunkle Ecke oder eine öffentliche Toilette verkriechen musste ...
Auch jetzt besteht meine Reaktion aus der Flucht ins Badezimmer. Sorgsam verschließe ich die Tür hinter mir, rutsche mit dem Rücken an die Tür gepresst zu Boden und vergrabe das Gesicht zwischen den Knien, die unangenehm kribbeln. Mein ganzer Körper kribbelt, jede Zelle scheint elektrisch aufgeladen zu sein.
Es ist nicht fair. Es ist nicht fair. Es ist nicht fair.
Wieso haben alle jemanden? Wieso hat selbst dieser blöde Depp, den ich zufällig getroffen habe, jemand? Eine Schwester. Die er sehen kann, wann immer er will, weil sie in derselben Großstadt leben und die ihn so offensichtlich liebt, dass es wehtut.
Ich werde das niemals haben. Diese Innigkeit. Diana braucht mich eigentlich überhaupt nicht, auch wenn sie mir wie eine Schwester ist. Ich ziehe sie ja doch nur runter, behindere sie an ihren Träumen. So oft wie ich sie im Stich ließ, weil ich krank war. Wie oft wir Partys versäumten und Festivals nicht besuchen konnten, weil ich »Migräne« hatte. Dabei war mir einfach nur alles zu viel.
Niemals werde ich gut genug sein. Nicht für meine beste Freundin, die ohne mich besser dran ist. Nicht für meine Eltern, die vermutlich so genervt von mir waren, dass sie nie ein zweites Kind bekamen, obwohl das Papas größter Wunsch war. Nicht für die Welt, die mehr von Kassandra Moon erwartet. Die mehr von mir erwartet. Weil ich mehr von mir erwarte.
Was ist nur los? Niemand wird mich sonderlich lange vermissen. Die Familie kommt ohne mich zurecht. Immerhin lassen sie mich jetzt auch in Frieden, sie lassen mich alleine. Wie immer. Weil ich es nicht wert bin. Weil ich–
»Saufnäschen, ich hoffe, du weißt, dass unser Zug in gut einer Stunde fährt. Entweder du beendest deine Sitzung da drin jetzt oder du sparst dir das Duschen. Deine Entscheidung.«
Vielleicht ist es nicht geplant gewesen, Jonas mitzunehmen. Es ist sicher nicht geplant gewesen, Ella mitzunehmen. Aber abstreiten, dass es was Gutes zu sein scheint, kann ich jetzt auch nicht.
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Everyday at 5AM
Ficção Geral»Jeden Morgen um fünf Uhr steht er auf. Er stellt die Kaffeemaschine an, er putzt sich die Zähne, holt die Zeitung herein, lässt unseren Hund Unicorn in den Hinterhof und dann kommt er zu mir ins Zimmer, um nach mir zu sehen. Jeden Morgen um fünf Uh...