Ich lasse mir alles erzählen. Was bei Ella viel länger dauert, als bei Penelope am Vortag. Zuerst weigert sie sich, sieht nur stur auf den Boden und ich sehe ihr an, wie sehr sie mit sich ringt.
Ich verstehe das ja. Besser als sie ahnt.
Nachdem wir drei Polizeistationen abgeklappert haben, sitzen wir auf einer Parkbank, als sie plötzlich anfängt zu reden. Ein ganzer Wörterfluss sprießt aus ihr heraus. Satz nach Satz nach Satz.
Darüber, was ihr Vater mit ihr angestellt hat. Über die vielen Jahre, die sie nicht loslassen und wie sie sich für so kaputt hielt, dass ihr alles egal war. Wer was mit ihrem Körper anstellte, was sie sich selbst antat, ob sie überhaupt existierte.
»Deswegen verstehe ich dich«, schnieft sie und starrt weiterhin kontinuierlich auf ihre Fußspitzen. »Ich weiß, wie du dich fühlst.«
»Aber du hast es verarbeitet. Du bist wieder gesund«, halte ich dagegen. Wie kann sie das sagen, wenn sie vor mir sitzt und Spaß hat am Leben?
»Gesund?« Schnauft sie etwa? »Das hier nennst du gesund? Auszurasten, weil ein Kerl mich angegraben hat? Mit einem blöden Spruch, auf den ich nicht einging. Als er es weiter versuchte, bin ich hysterisch geworden. Es war zu voll auf dem Platz, ich fühlte mich ... Wenn dir sowas widerfährt, siehst du die Gefahr überall.
Jonas ging dazwischen, weil er weiß, was mein Vater mir antat. Was weitere Männer danach mit mir anstellten. Sandy, das ist nicht 'geheilt'. Das werde ich niemals sein. Seelische Narben bleiben für immer.«Doch sie ist so lebensfroh. Sie hat Spaß an allen Dingen, lässt sich auf alles ein, lacht viel, macht viel Blödsinn.
Genau das sage ich ihr auch und zum ersten Mal seitdem sie angefangen hat zu reden, schaut sie wieder auf. Ihr ungeschminktes Gesicht irritiert mich. Sie sieht so verletzt aus. So ... nackt.
»Weil es nicht anders geht. Ich versuche mir das Leben schön zu machen, verstehst du das denn nicht? Ich saß jahrelang wie eine Puppe herum und ließ alle anderen darüber entscheiden, was ich mache. Dadurch ging es mir immer schlimmer. Ich fing mit einer Therapie an und so langsam funktioniert es wieder, ich habe endlich wieder wirklich Freude am Leben, ich spiele es nicht mehr nur. So kann es dir auch gehen.«
Wie schon zuvor mit Penelope will ich gar nicht hören, was sie noch zu sagen hat. Es sind nur noch fünf Tage, bis ich Geburtstag habe. Statt weiter zu fahren, sitze ich mitten im Park und unterhalte mich mit jemand, den ich kaum kenne. Höre mir ihre tragische Lebensgeschichte an und lasse mich belehren, wie schön das Leben doch sein kann.
Unbestreitbar, ihr Schicksal ist fürchterlich, aber es ist nicht meines. Sie hat keine Ahnung, wie es mir geht. Vor allem hat sie kein Recht, mir Vorbehalte zu machen. Sie steckt nicht in meinen Schuhen.
»Wir sollten Jonas suchen. Er wartet bestimmt schon«, beende ich unser Gespräch und springe bereits auf, um zur nächsten Bushaltestelle zu laufen. Ich habe zwar keine Ahnung, in welche Richtung er uns bringt, aber alles ist besser als hier zu sein.
Gar nicht so viel später erreicht Jonas uns.
»Er wurde freigelassen. Bleibt abzuwarten, ob der Typ Anzeige erstattet«, erklärt Ella mir, woraufhin ich nur nicke.
Wie konnte ich nur denken, dass sie meine Freundin ist? Freundinnen würden mich verstehen, oder? Wobei ich das Diana auch nicht zumute. Ach verdammt. Ella mit ihren blöden Sprüchen geht mir nicht aus dem Kopf.
Vermutlich seile ich mich jetzt deswegen ab, sobald wir uns mit Jonas treffen. Die beiden fallen sich überschwänglich in die Arme und versichern sich gegenseitig, dass sie in Ordnung sind.
Zum Kotzen.
Also lasse ich die beiden Turteltäubchen alleine zurück und fahre, unschlüssig, was ich mit mir anstellen soll, in die Innenstadt zurück.
Wieso sind alle so zu mir? Wieso haben alle jemanden und ich stehe alleine da? Innerlich allein, mitten in einer Masse. Das ist doch nicht fair. Wieso kann ich nicht normal sein, mit normalen Gedanken und Reaktionen auf alles?
Bei guten Nachrichten sollte man sich freuen, stattdessen suche ich immer nach dem Haar in der Suppe. Ich sehe stets nur die negative Seite, male mir immer alles schwarz. Vielleicht verdiene ich das auch so. Wer ein schlechter Mensch ist verdient auch nur schlechte Dinge, so einfach ist das doch im Leben.
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Everyday at 5AM
General Fiction»Jeden Morgen um fünf Uhr steht er auf. Er stellt die Kaffeemaschine an, er putzt sich die Zähne, holt die Zeitung herein, lässt unseren Hund Unicorn in den Hinterhof und dann kommt er zu mir ins Zimmer, um nach mir zu sehen. Jeden Morgen um fünf Uh...