10. Dangerous Man

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Schon seit Wochen habe ich das Gefühl, dass mir etwas wesentliches fehlt, und jetzt weiß ich auch, was es ist. Das Gefühl, geliebt zu werden. Dass man mich wirklich bedingungslos liebt, mit meinen Fehlern und Makeln. Versteht mich nicht falsch, ich bin unendlich dankbar dass ich Robin habe, aber mir fehlt so etwas wie... Familie. Ich habe die Gedanken an meine Mutter und an Matt schon lange verdrängt, weil ich genau wusste, dass ich ansonsten die Traurigkeit nicht mehr aufhalten könnte. Und die mit einhergehende Verzweiflung, die Platzangst. Schlimm genug, dass ich hier abgelegen und versteckt leben muss um einem landesweiten Suchbefehl zu entkommen, aber was für mich noch viel schlimmer ist, ist der Gedanke an die Enttäuschung in den Augen meiner Mutter. Nie hätte sie mir so etwas zugetraut, wie auch, wenn ich selbst niemals damit gerechnet hätte. 

Mit einem unberechenbaren Psychopathen aus einer geschlossenen Anstalt zu fliehen.

Der unberechenbare Psychopath, der mich in diesen Moment in den Armen hält. Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen und ein Schauer läuft mir über den Rücken.

Was soll ich tun?

Ich war noch nie mehr hin- und hergerissen zwischen zwei Entscheidungen, die mich beide verletzen würden. Manchmal muss man entscheiden, was einem der Schmerz wert ist. Und vor allem welcher Schmerz einem wert ist. Für mich gibt es einerseits den Weg, Robin zu verlassen, mich meinem Schicksal zu stellen und eventuell irgendwann wieder normal leben zu können. Aber allein der Gedanke daran, Robin zu verlassen versetzt mir einen schmerzvollen Stich in der Brust.

Auf der anderen Seite kann ich hier bleiben und darauf hoffen, dass ich mich nicht mein Leben lang verstecken muss. Wie lange kann es schon dauern, bis Gras über die Sache gewachsen ist? Zehn Jahre? Zwanzig? Es wird schon nicht immer so sein, oder?

Oder was wäre, wenn sie uns finden würden?  Wenn irgendwann einmal jemand auf die Idee kommen würde, jede entlegene Hütte in jedem kleinen Dorf abzusuchen? Die Zukunft ist ungewiss. Und das ist das, das mir Angst macht. 

"Ist alles in Ordnung?", flüstert Robin in mein Ohr. Kurz zucke ich kaum merklich zusammen bevor ich mich umdrehe und ihm in die Augen blicke. Seine Miene ist weich, fast schon schuldbewusst. Er weiß, dass gerade nichts in Ordnung ist, egal wie man sich die Situation schönreden will. "Irgendwann..."  Alles nur leere Hoffnungen. Ich nicke. "Ja. Nur zu viel Zeit um nachzudenken." In meinem Hals hat sich ein Kloß gebildet und ich weiß, dass nicht mehr viel fehlt, bis ich die Tränen nicht mehr davon abhalten kann über mein Gesicht zu strömen. Aber dann wäre das Ventil wenigstens geöffnet. Vielleicht würde ich danach klarer denken können. Ich senke den Blick zu Boden und versuche konzentriert, etwas zu finden, das mich ablenken könnte. Vielleicht die Unebenheit im Parkett. Oder der Fleck mit unbekannter Herkunft. Aber dann ist es Robins Hand, die mich aus meinem Tief zieht. "Wir können darüber reden, wenn du möchtest." Kurz herrscht Stille. Wenn ich möchte. Ja, was möchte ich eigentlich? Es wird wirklich Zeit, dass ich mir darüber klar werde. Aber dazu muss ich... raus hier. Die Wände kommen mir von Tag zu Tag näher, bis sie mich irgendwann zerdrücken. "Lass uns raus gehen." "Nein!" Ich halte in der Bewegung inne und sehe ihn an. Er hat nicht einmal versucht, die Unruhe in seiner Stimme zu überspielen, die Sorge. "Wieso nicht?" Er greift nach meinen Armen und hält mich fest. "Venice, bitte." Mit seiner rechten Hand streicht er mir eine Strähne aus dem Gesicht und blickt mir dann fest in die Augen. "Lass uns hier bleiben. Es wird bald dunkel. Und außerdem... ist es sehr kalt draußen. Und gefährlich." Irgendetwas an ihm überträgt seine Unruhe auf mich. "Was soll denn passieren?" Kurz ist er still, seine Miene weicht wieder dem unergründlichen Gesichtsausdruck. "Das kann man nie wissen." 

Doch irgendetwas in mir ist sich sicher, dass er weiß, was passieren könnte.Sonst hat ihm die Kälte auch nichts ausgemacht. Oder die Dunkelheit. Oder was auch sonst. Aber jetzt mit ihm zu streiten würde vermutlich nichts an seiner Entscheidung ändern. 

"Gut.", höre ich mich selbst sagen. "Dann reden wir hier." Erleichtert zieht er die Mundwinkel nach oben , nimmt meine Hand in seine und zieht mich mit ihm in die Küche. Er bedeutet mir, Platz zu nehmen und ich lasse mich auf einen der Stühle fallen. Robin füllt einen Topf mit Wasser und stellt ihn auf die Herdplatte. Während er das Wasser erhitzt, setzt er sich zu mir. "Erzähl mir, was dich bedrückt." Ich sehe auf meine Hände hinab und überlege, wie ich anfangen soll. 

"Ich weiß nicht, ob ich das, das passiert ist, bereuen sollte oder nicht." In Robins Gesicht regt sich kurz etwas, das ich nicht deuten kann. Er nickt . Möchte, dass ich weiterspreche.  Also spreche ich weiter. "Ich fühle mich einfach überfordert in dieser Situation und ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich habe nicht viele Aussichten, und trotzdem ist es die schwerste Wahl, über die ich je entscheiden musste. Die eine Möglichkeit ist das Gefängnis. Die andere..." Wieder diese Regung in Robins Gesicht, diesmal erkenne ich es. Er ist verletzt. Aber nicht überrascht verletzt, es wirkt so, als hätte er immer schon gewusst, dass ich das sagen würde, es aber nicht glauben wollen. Ich möchte nicht weitersprechen, möchte ihn nicht noch mehr verletzen, aber ich weiß, dass ich ihm eine Erklärung schuldig bin. "Du musst das verstehen, Robin. Es ist ja nicht so, als wäre ich mit irgendwem durchgebrannt. Denn du bist nicht irgendjemand. Du bist eine gefährliche Person, die ich in meiner Stellung quasi auf die Allgemeinheit losgelassen habe. Zumindest wirkt das so auf den Rest der Welt. Und... deswegen habe ich Schuldgefühle. Dir gegenüber, meiner Familie gegenüber, im Endeffekt gegenüber jedem. Deswegen ist die Entscheidung ja auch so schwer, weil ich nicht weiß, ob ich mit meinem Herzen oder mit meinem Verstand entscheiden soll." Ende. Mehr kann ich nicht sagen, ohne in Tränen auszubrechen. Es kommt mir vor, als würde mir erst jetzt die Drastik dieser Situation klar werden, jetzt, in dem Moment indem ich wirklich über das rede, über das ich mir bisher nur im Stillen den Kopf zerbrochen habe.

Das Wasser kocht schon lange, aber niemand von uns nimmt Notiz davon. Wir sitzen uns schweigend gegenüber und sehen uns an. Ich weiß nicht, wie viel Zeit vergeht, ich weiß nur, dass ich ihn reden hören möchte. Seine Sicht auf die Dinge erfahren möchte. Aber er ist ein geschlossenes Buch. Irgendwann atmet er dann tief durch. Sein Blick wird klarer.

"Egal wie du dich entscheidest-" Kurz hält er inne, spricht dann aber weiter. "du wirst beidesmal dein Todesurteil unterschreiben."


Robin Brooks - CHANGESWo Geschichten leben. Entdecke jetzt