Der Rückweg ist nicht unbedingt leicht. In diesem Wald sieht jeder Baum gleich aus, hoch und schneebedeckt. Der Schneesturm hat etwas nachgelassen, zumindest kann ich weiter sehen als noch vor ein paar Minuten. Ich kann nicht fassen, wie kalt es ist, immerhin habe ich in den letzten Jahren vergleichsweise eher wenig Schnee gesehen- dafür in den letzten Monaten umso mehr. Und die Kälte ist sehr beharrlich. Sie schleicht sich leise an einen heran, und bevor man weiß, wie einem geschieht hält sie einen fest in ihrer eisernen Faust.
Die Schatten werden immer länger, und irgendwann umgibt mich nur noch pure Finsternis. Das Mondlicht schimmert hin und wieder durch die Baumkronen hindurch und wird vom Schnee reflektiert, was sich als meine einzige Lichtquelle herausstellt. Aber schlimmer als die Dunkelheit ist tatsächlich die Stille. Neben meinen Schritten höre ich nur meine schreienden Gedanken in meinem Kopf, laut und sich gegenseitig unterbrechend, hunderte Gedanken auf einmal. Ich dachte immer, dass ich mich unter Kontrolle hätte- aber wie sich herausstellt bin ich wohl unvollkommener als gedacht.
Ich versuche mich in diesem Wald zurechtzufinden. In mir habe ich eine Art Navigationssystem, das mich leitet, ich kenne mein Ziel und werde mich nicht davon abhalten lassen, es zu erreichen.
Irgendwann betrete ich eine Lichtung.Sie leuchtet im fahlen Licht des Mondes und ich bleibe kurz stehen. Die Stille hier ist so friedlich. Und doch verbirgt sich hier irgendwo eine Gefahr, eine leise Spur des Grauens, auch wenn ich sie nur in mir selbst finden kann. Venice. Ich werde sie finde und ich werde um sie kämpfen. All die Jahre des Verdrängens werden vorbei sein, mein letzter Kampf ist gegen mich selbst, und das in Form meines Onkels. Entschlossen blicke ich den Sternen entgegen.
Meine Handgelenke schmerzen unter den engen Seilen und ich spüre, wie meine Durchblutung in den Fingern nachlässt. Ich hasse es, gefesselt zu sein, wenn andere Menschen ihre Macht auf einen ausüben wollen auf eine so ungerechte Weise. Wenn du einen Kampf willst, Nick, dann kämpfe wie ein echter Mann- denn das Spielchen das du hier spielst ist ziemlich feige. Meine Benommenheit weicht der Wut und einem Beschützerinstinkt. Nick ist vor einigen Minuten aus dem Zimmer verschwunden, ich höre keine Schritte mehr und er hat auch schon seit einer Weile keine zynische Bemerkung mehr gemacht. Und immer noch bleibt die Frage offen, wo Robin ist.
Ich sehe mich um, soweit es mir mein Sichtfeld erlaubt. An der Wand neben mir steht eine Kommode. Nick mag vielleicht alle Schubladen durchsucht haben, aber er hat übersehen, dass unter dem Boden der untersten Schublade eine Art Geheimfach ist, und zugegeben, ich selbst habe selbst vergessen, dass es existiert. Es war meine Idee gewesen, nach meiner Erfahrung im letzten Jahr habe ich überall in der Hütte Waffen versteckt- hauptsächlich Messer, die ich in den Schubladen in der Küche gefunden habe. Auf einmal rauscht Adrenalin durch meinen Körper. Es gibt eine Chance zu entkommen, auch wenn ich noch nicht einschätzen kann, wie groß diese Chance ist. Ich muss theoretisch nur mein rechtes Bein ausstrecken und-
"Robin scheint wohl doch nicht mehr aufzutauchen, oder, Venice?" Ich lasse mein Bein langsam auf den Boden sinken. Ich habe keine Angst. Ich habe keine Angst.
Ich habe verdammt große Angst.
"Das heißt, entweder liegt ihm wohl doch nicht so viel an dir wie du dachtest" Er macht eine kurze Pause, um meine Reaktion abzuschätzen, aber diese Genugtuung werde ich ihm nicht schenken. Ich bleibe still und versuche, meinen Herzschlag wieder unter Kontrolle zu bekommen. "...oder er ist schwächer als gedacht." Ich wusste nicht, dass Gefängnisse Menschen zu so schlechten Menschen machen. Er spricht hier von seinem Neffen, vom Sohn seiner Schwester. So sollte doch kein Mensch von seiner eigenen Familie sprechen! "Vielleicht ist er auch einfach zu schlau für dich, Nick." Er lacht, ein heiseres, leises Lachen. "Du überschätzt ihn, Venice-Schätzchen. Robin hat vielleicht eine große Klappe. Aber innerlich ist er immer noch ein Mensch mit Schwächen. Und einem psychischen Knacks." Ich schüttele den Kopf. "Da ist er nicht der einzige, glaub mir. Wenn ich dir ein kleines Geheimnis verraten darf- jeder Mensch hat einen psychischen Knacks, die einen mehr, die anderen weniger. Du. Ich. Niemand ist sinnig, Nick. Und du, Hayets, bist der Letzte, der jemanden danach beurteilen darf." Er atmet tief aus. "Wenn das hier ein Vortrag werden soll, Porter, dann ziehe ich vor, ihn auf später zu verschieben. Vielleicht auf dann, wenn du im Gefängnis deine Strafe absitzt. Oder wann auch immer. Vielleicht auch lieber gar nicht, wenn ich recht darüber nachdenke."
"Du hast Angst.", stelle ich fest. Plötzlich spüre ich seine Hände auf meinen Schultern, seine Daumen streicheln über die empfindliche Stelle, an der der Hals in die Schultern über geht. Für eine Sekunde bleibt mir die Luft weg. Ich höre ein Lächeln in seiner Stimme, als er mir ins Ohr flüstert: "Du auch." Ich werfe einen flüchtigen Weg auf die Kommode. Auf einmal schleicht sich wieder die Verzweiflung in mein Bewusstsein.
Ich kenne Nicks Tricks. Aber leider kommt er mit ihnen durch. Ich fühle mich wie gelähmt. Ich höre mein Blut in meinen Ohren rauschen, mein Herzschlag scheint sich verdoppelt zu haben. Seine Hände ruhen weiterhin auf mir. "Zu schade, dass ich dich verschwenden muss. Du bist wunderschön, Venice. Eigentlich sollte ich das Beste aus dir machen. Ich-"
Er wird unterbrochen, als auf einmal die Glasscheibe des Fensters klirrend zerbricht.

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Robin Brooks - CHANGES
Fiksi Remaja//!!Das ist der zweite Teil von 'Robin Brooks'. Um wirklich alle Inhalte zu verstehen, rate ich, den ersten Teil zuerst zu lesen.!!// Als Venice und Robin in Tadem, einer kleinen Stadt in Alaska, Zuflucht vor den Behörden finden, scheint endlich Ruh...