7. Scream

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Als ich aufwache, sehe ich als erstes die Zimmerdecke. Das zweite das ich sehe ist, dass ich alleine bin. Die Wärme von vor ein paar Stunden ist verflogen. Wie lange habe ich überhaupt geschlafen? Wahrscheinlich ein paar Stunden, aber ich weiß nicht ob die Dunkelheit jenseits der Fenster noch die derselben Nacht ist oder eine andere. Ich fühle mich verloren in diesem Raum-Zeit- Kontinuum. Als ich mich aufsetze, habe ich ein  Taubheitsgefühl in meinen Beinen, wie wenn man zu lange gesessen ist. Trotzdem steige ich aus dem Bett und fühle mich unglaublich dehydriert. Kein Wunder, ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt etwas getrunken habe. Und wo zum Teufel ist Robin wieder? Gerade war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich mir durchaus vorstellen könnte, ihm zu vertrauen.  Und mich ihm mitsamt meiner Seele hinzugeben. Aber bevor ich überhaupt die Chance habe, es ihm zu zeigen, ist er wieder nicht hier. Bei mir. 

Es versetzt mir einen Stich, als mich der Gedanke überkommt, dass er es bereuen könnte. Aber was ist, wenn er es insgeheim wirklich nicht will? Ein Leben mit mir? Was, wenn er irgendwann wirklich weg ist? Wenn er... jetzt weg ist? Ich möchte keinen Gedanken daran verschwenden, ich will nicht darüber nachdenken. Er kommt sicher wieder. Bald. Vielleicht sogar schon in fünf Minuten. Und macht sich darüber lustig, dass ich mir Sorgen mache. Oder er regt sich darüber auf. Oder... 

Ich seufze tief und setze mich dann auf einen der Stühle in der Küche, meine Ellenbogen stütze ich dabei auf der kalten Tischplatte ab und reibe mir mit den Zeigefingern über die Schläfen. Die ganze Situation- Robin- verwirrt mich nur noch. Es stellt alles auf den Kopf, meine Gefühle, meine Geschichte und meine Werte. Er hat mich Dinge tun lassen, die ich ohne ihn nie getan hätte. 

Wenn ich die aktuellen Geschehnisse meinem zwei Jahre jüngerem Ich mitteilen würde, würde ich mich selbst auslachen und anhand meiner Studienbücher über Psychologie Paranoia bei mir selbst diagnostizieren. Was ich mir jedoch nicht verübeln kann.

Nur dass das hier eben keine Wahnvorstellung ist, sondern das Phänomen, das sich Leben nennt. 

Ich höre von draußen ein Krachen. Zuerst denke ich, dass es Robin ist, oder ein Einbrecher. Dann kommt mir in den Sinn, dass Robin niemals laut ankündigen würde, dass er kommt und ein Einbrecher hier nun wirklich nichts finden würde. Also kann es nur ein anderes Tier sein oder die gefrorene Schneeschicht, die jetzt vom Dach gerutscht ist. So oder so macht mir das Geräusch irgendwie Angst und ich verspüre so etwas wie Panik in mir aufkeimen. Erst jetzt wird mir das gesamte Ausmaß dieser Situation klar: Ich habe tatsächlich mein Leben aufgegeben für einen Mann, den ich fast nur aus einer Akte kenne, von dem ich weiß, dass er schon ein paar Menschen auf dem Gewissen hat. Ich meine, wie gut kenne ich ihn? Ich weiß, dass er launisch ist und sogar eine multiple Persönlichkeitsstörung hat. Dass er gerne in Rätseln spricht und die Kontrolle über die aktuelle Situation haben will. Dass er niemanden an seine Gedanken und seine Gefühle heranlassen will. Und dass er ein fantastischer Liebhaber ist. Aber was weiß ich aus seiner Vergangenheit? Kaum etwas, das meiste aus der bereits genannten Akte beziehungsweise von seiner Schwester Abby. Ich habe mir immer gesagt dass man hier draußen nur das ist, was man als mensch wirklich ist, und habe immer den Gedanken verdrängen wollen, dass er krank ist.  Und dennoch habe ich alle meine Vorsätze über den Haufen geworfen und sitze jetzt mitten in Alaska fest mit einem Psychopathen, habe keine Ahnung, wie lange es noch dauert, bis die Polizei vor der Tür steht, wann wir verhaftet werden, wann Robin sich nicht mehr unter Kontrolle hat und handgreiflich wird. Das alles- ist ungewiss. Und ich habe keinerlei Kontrolle über den Lauf der Dinge. Und das macht mich wahnsinnig. Jeden Tag hier festzusitzen und das Schlimmste zu erwarten. Wie lange soll das noch so weitergehen? Bis ich alt und grau bin? Bis ich in 50 Jahren immer noch an diesem Tisch sitze und mich frage, wohin zum Teufel Robin schon wieder verschwunden ist? Ich habe nicht mehr viele Möglichkeiten offen. Ich kann mich der Polizei stellen- oder mein restliches Leben mit diesem Psychopathen verbringen. 

Und irgendwann muss ich mich entscheiden. 

Von all diesen Zweifeln in meinem Kopf merke ich, wie sich mein Inneres zusammenkrampft und meine Augen beginnen zu brennen. Dann wird meine Sicht von den Tränen getrübt- und dann kann ich es nicht mehr aufhalten. Es ist wie ein Damm, der gebrochen ist, ein Fass, dass so voll ist, dass es überläuft. Ich schluchze in regelmäßigen Abständen und kann an nichts anderes mehr denken als das mein Leben eine Einbahnstraße ist. Irgendwann kommt man an eine Mauer und es geht nicht mehr weiter. Und man hat die Wahl, mit aller Kraft umzukehren oder mit dem Kopf durch die Wand zu gehen. "Scheiße...", murmele ich als die Schluchzer abgeklungen sind und mein Tränenvorrat aufgebraucht ist. "Scheiße." Diesmal ist es etwas lauter. "SCHEIßE!!!" Die nächsten Minuten verbringe ich damit, laut zu fluchen und alles von den Oberflächen zu fegen, das ich finden kann. Papier. Ein Glas, das in tausend Einzelteile zerspringt. Ein Foto meiner Familie, das ich ihr zu Ehren auf einer Kommode platziert habe. Die signierte Originalausgabe von"1984".  Meine ganze Wut gilt Robin. Er hat mein Leben zerstört, alle meine Zukunftspläne zunichte gemacht. Und ich war naiv genug, zu denken, dass ich ihm vertrauen könnte.

In diesem Moment höre ich, wie die Tür geöffnet wird. Natürlich ist es Robin. Ich laufe mit schnellem Schritt auf ihn zu. "Hey, Venice." Er lächelt leicht. Ich verpasse ihm eine Ohrfeige. "Du bist ein Monster, Robin. Ein verdammtes, krankes Monster." Jeder Ausdruck weicht von seinem Gesicht und er scheint meine Worte in sich aufzunehmen. "Wie bitte?", fragt er dann mit schneidender Stimme. "Du hast es richtig verstanden, du kranker Vollidiot. Oder wie soll ich dich nennen? Den unfassbaren Robin Brooks? The Mentalist? Denn du hast es tatsächlich geschafft, mein ganzes Leben zu zerstören. DU bist derjenige, wegen dem ich jetzt auf der Flucht bin. Wegen DIR werde ich landesweit gesucht! Herzlichen Glückwunsch, Brooks. Du hast es tatsächlich geschafft, mich umzubringen. Zwar nicht in dem Sinne, aber gesellschaftlich. Willst du das nicht feiern?" Mit jedem Wort wird meine Stimme lauter. Robin sieht mich weiter unverwandt an. "Was willst du schon tun, wenn ich mich dazu entschließe, einfach zu gehen und mich der Polizei zu stellen? Was verdammt willst du dagegen tun? Was? SAG ES MIR!" Ich kann meine Wut nicht mehr in Schach halten und schlage mit der Faust gegen die Wand. Putz bröckelt auf den Boden. Ich sehe ihm fest in die Augen. "Sag es mir, du allmächtiger Robin Brooks."  Er starrt zurück. Scheint sich etwas zu überlegen, mit dem er mich zerstören kann und alle meine Worte vergessen lässt. Er atmet tief und schwer. "Du hättest nie mitkommen müssen. Ich habe dir eine Wahl gegeben." Und er schafft es. Auf einmal verfliegt mein ganzer Ärger auf ihn und ich spüre- nichts. Zwischen seinen Augenbrauen bildet sich auf einmal eine tiefe Furche und er sieht mich fast schon abwertend an. "Aber es ist nicht meine Schuld, dass du so ein krankes Faible für Psychopathen hast, Venice. Oder sollte ich lieber sagen... Ms. Porter?" Zack. Mit diesen Worten hat er es endgültig geschafft. Mit diesen Worten hat er mein Innerstes an einen Abgrund gedrängt und es dann hinabgestoßen.

 "Oder denkst du wirklich, dass es meine VERDAMMTE Schuld ist, dass du dich für das hier entschieden hast?"

 - "WIESO hast du mir überhaupt diese Wahl angedreht und bist nicht selber gegangen?"

- "Das..."

 - "Wieso, Robin?

-"Weil.."

-"SAG ES MIR!"

- "Weil ich dich brauche."

Wieder Stille.Er blickt mir in die Augen, und es liegt ein unglaublicher Schmerz in ihnen, der Blick in die Seele, der mir zeigt, dass er innerlich zerbrochen ist. Dass er am Ende ist. Dass er jemanden braucht, der ihm hilft, wieder stark zu werden. Dass er mich braucht. 

Robin Brooks - CHANGESWo Geschichten leben. Entdecke jetzt