Ich setze einen Schritt vor den anderen und versuche, nicht allzu tief in den krustigen Schnee zu versinken. Die eisige Kälte sitzt mir tief in den Knochen und ich habe das Gefühl, dass mein Körper permanent von einer hartnäckigen Gänsehaut überzogen wird. Mein Atem geht stoßweise, weiße Wolken verlassen meinen Mund, hin und wieder merke ich, wie meine Energie meinen Körper langsam verlässt. Wann habe ich zuletzt den Frühling, geschweige denn den Sommer gesehen? Schon länger als ein Jahr ist es her, dass ich einfach so in einem T-shirt das Haus verlassen konnte. Sich das jetzt vorzustellen lindert meine Gänsehaut nicht unbedingt. Ich ziehe mir meine Mütze tiefer über die Ohren und frage mich, wieso ich überhaupt das Haus verlassen habe. Vielleicht wegen der Kälte? Nein. Wegen der endlosen weißen Landschaft jenseits der Fenster? Bestimmt nicht. Nein, tatsächlich liegt es an der Abgeschiedenheit. Der absoluten Ruhe. Das war es auch, was mir in Fumeston so gefallen hat- die Ruhe, entfernt zu sein von allem Trubel. Kein neuer Internettrend. Kein Skandal in der Welt der Reichen und Schönen. Einfach nur im Einklang sein mit sich selbst und seiner Welt.
Und ich bin hier wegen Robin. Ich hatte schon oft Momente des Zweifelns, und diese Zweifel sind gerade jetzt besonders stark. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich in dieser Abgeschiedenheit zu viel Zeit zum Nachdenken habe. Aber mir ist erst in den letzten Tagen aufgefallen, was ich. eigentlich alles für Robin, dem Psychopathen und dem Mann, den ich liebe, aufs Spiel gesetzt habe. Meine Karriere, und somit drei Jahre Studium, die ich in den Sand gesetzt habe, und das während meiner ersten Chance, mich als eine seriöse Psychotherapeutin zu beweisen. Ich habe meine Zukunft verbaut wegen dem Mann. Ich hoffe, dass er es letztendlich auch wert war. Aber dafür muss ich erstmal herausfinden, auf welcher Schiene sich unsere Beziehung überhaupt bewegt. Ist er im ersten Moment noch sanft und liebevoll, so wird er im nächsten abweisend und hart.Und ich werde den Gedanken nicht los, dass er unsicher ist. Wenn er nicht sogar Angst hat. Er verändert sich. Und ich weiß nicht, ob mir das gefällt oder nicht.
Der Schnee. Ein Element, ebenso wunderschön wie gefährlich. Ein Wunder, das dich umbringen könnte. Reines, unschuldiges Weiß. Alten Legenden zufolge ist der Winter die romantische Verkörperung des Tods. Er kommt und holt sich was er will. Leise und unbemerkt. Das ist das, das den Winter seit jeher magisch macht. Zumindest in meinen Augen. Nicht die kitschigen Weihnachtsbräuche, rotes Geschenkband und der Duft von Pfefferkuchen, nein. Das Klare. Auch wenn die Kälte manchmal grausam sein kann. Aber ich habe nie zugegeben, nicht selber dem Winter zum Opfer fallen zu können. Es kann jeden treffen.
Mein Kopf beginnt zu schmerzen von all den wirren Gedanken, die gleichzeitig durch meinen Kopf schwirren. Zu viel. Zu schnell. Ich vergrabe mein Gesicht in meinen Händen, weil mir plötzlich schwindelig wird. Ich steuere den nächstbesten Baum an und setze mich unter ihn, um dem umherwirbelnden Schnee auszuweichen und verharre in dieser Position. Sind es zehn Minuten? Zehn Stunden? Zehn Äonen? Fest steht, dass ich erst wieder meinen Kopf hebe, als ich spüre, wie sich eine Hand auf meine Schulter legt. "Alles in Ordnung, Venice?" Sein Blick ist voller Sorge. Er kniet vor mir und hält meine Schulter fest. Er muss sich wirklich Sorgen machen. Ich blicke mich um. Wie lange war ich hier? Ich bringe ein knappes Nicken zustande. "Ich suche dich schon seit zwei Stunden. Du wolltest nur kurz frische Luft schnappen. Stattdessen liegst du halb erfroren unter einem Baum. Ist alles in Ordnung?" Ich nicke erneut und versuche aufzustehen. Das ist leichter gesagt als getan, denn kaum bewege ich mich einen Zentimeter von der Stelle fällt ein schwarzer Schleier vor meine Augen und ich taumele zurück. "Venice!" Ich versuche den Baumstamm ausfindig zu machen und mich abzustützen, aber Robin schlingt beide Arme um mich. "Ich trage dich." Bevor ich ablehnen oder fragen kann, wie er sich das vorstellt, wuchtet er mich auf seinen Rücken. Ich lege beide Arme um seinen Hals und versenke mein Gesicht an seiner Schulter. Ich fühle mich plötzlich einfach nur schwach und kraftlos. Und ich fühle gleichzeitig Erleichterung. Wäre Robin nicht gewesen... vielleicht wäre ich dann noch länger im Schnee gelegen. Oder schlimmeres.
Irgendwann kommen wir wieder am Haus an, ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Robin legt mich vorsichtig auf das Bett und hilft mir, die vom Schnee kalten und nassen Klamotten abzustreifen. Dann greift er nach einer der Decken und deckt mich zu, sodass die Kälte keine Chance mehr hat, mich irgendwie zu erreichen. "Alles in Ordnung?", flüstert er dann noch, aber ich höre seine Stimme nur noch aus weiter Ferne, denn mit einem Mal wird alles schwarz.
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Robin Brooks - CHANGES
Fiksi Remaja//!!Das ist der zweite Teil von 'Robin Brooks'. Um wirklich alle Inhalte zu verstehen, rate ich, den ersten Teil zuerst zu lesen.!!// Als Venice und Robin in Tadem, einer kleinen Stadt in Alaska, Zuflucht vor den Behörden finden, scheint endlich Ruh...