Nach Stunden der Arbeit ohne Pause werden wir wieder auf den Appellplatz geschickt. Alle Arbeiter gehen in Dreierreihen zurück zu der großen Betonfläche. Das ist immer so, jeden Tag, seit... ich weiß nicht, wie lange schon. Ich habe jegliches Zeitgefühl verloren. Langsam geht mir der Schlamm wirklich auf die Nerven.
Links neben mir ging eine alte Frau, rechts ein Junge, nicht viel älter als Karl. Keines ihrer Gesichter konnte ich wirklich erkennen, sie waren mit Schlamm bedeckt, doch ich hatte an ihrer Seite gearbeitet.
Sie waren mir im Moment näher als irgendjemand sonst, sogar näher als Frodo, der jeden Morgen vom Hauptmann abgeführt wurde und jeden Abend mit abwesendem Blick zurückkehrte, bevor er neben mir auf die Matratze sank. Er war jeden Tag beim Hauptmann, doch er sagte nie, was seine Aufgabe dort war, er sagte generell nichts.
In Reih und Glied aufgestellt standen wir kerzengrade auf dem Platz. Wieder wurden alle beim Namen gerufen und mussten sich melden.
Jeden Tag. Und jeden Tag wurden besonders schlimme Verbrecher oder Gefangene, die nicht mehr arbeiten konnten, die etwas gestohlen hatten oder die flüchten wollten, mitten auf dem Platz bestraft oder exekutiert. Es war, wie Karl gesagt hatte. Man stumpft irgendwann ab, es ist nichts Weltbewegendes mehr, wenn einer von uns stirbt. Wir sterben hier drin alle.
Doch an diesem Tag kam ein Soldat, der eine Person an den langen dunklen Haaren hinter sich herzog und sie schließlich vor uns hinwarf. Sie blieb liegen, zusammengekrümmt, das Gesicht hinter dem verfilzten Haar versteckt. Trotzdem erkannte ich sie.
Vanessa.
"Joiko!", brüllte der Soldat.
"Wo ist Jakob Joiko?"
Ich trat vor.
Er sah mich feindselig an.
"Du kennst diese Person?"
Ich nickte.
"Vanessa Gierszewski"
"Korrekt. Was hat sie getan?"
"Sie gehörte zu der Gruppierung um den... Verräter... Marti Fischer"
Noch immer hatte ich nicht in Erfahrung bringen können, was Marti getan hatte, dass er als Legende und Staatsfeind Nummer eins geahndet wurde. Jeder sprach seinen Namen mit Abscheu oder aber einer gewissen Ehrfurcht aus, manchmal beides gleichzeitig.
"Was hat sie noch getan?", fuhr der Soldat kalt, beinahe unbeteiligt fort.
"Sie hat sich geweigert, Florian Mundt zu erschießen"
"Warum sollte sie ihn erschießen?"
"Er... war ebenfalls ein Verräter"
"Korrekt. Also hat sie die Maßnahmen, die gegen sie ergriffen wurden, verdient?"
Maßnahmen? Meinst du die Folter oder die Misshandlung, du Arsch?
"Joiko, antworte!"
Ich schwieg. Es war der einzige Widerstand, den ich mir erlaubte.
Ich hörte fast das Mahlen des schweren Kiefers des Soldaten. Er hasste Ungehorsam. Solchen wusste er zu bestrafen.
Er hielt mir eine rostige Schere hin. Ich nahm sie vorsichtig und warf einen Blick auf Vanessa. Sie hockte immer noch am Boden, doch ihre Augen sahen klar zu mir auf. Erst jezz bemerkte ich ihr blaues Auge, die vielen Wunden und Schrammen. Alles Beweise für die Misshandlung, die sie erfahren hatte.
Ich kniete mich neben sie und half ihr auf.
Mir war klar, warum sie wollten, dass ich es tat. Um sie zu demütigen. Auch wenn es banal klingt. Um nichts anderes ging es hier. Erst sollte ich ihre Verbrechen eingestehen... und nun die Haare abschneiden. Die Menschen mit Glatze hatten im Lager einen noch schlechteren Stand als die, denen ihre Haare erhalten geblieben waren. Die Häftlinge mit Haaren hatten gewisse 'Vorrechte', wenn man es denn Rechte nennen konnte. Menschen ohne Haare waren gebrandmarkt, sie bekamen manchmal nichts zu essen oder wurden verprügelt.
Wenn du in einer Basis keine Haare mehr hast, bist du vogelfrei. Alles Methoden, um uns gegenseitig aufzuhetzen, damit niemand einen Aufstand anzetteln konnte. Solange man nur ums nackte Überleben kämpft, denkt man nicht an Widerstand.
Es dauerte Ewigkeiten. Die Schere war stumpf und klemmte wegen des Rosts. Mehrmals zuckte Vanessa zusammen, weil ich ihr Haare ausriss, doch sie hielt tapfer durch, reckte das Kinn, sah jedem einzelnen Gefangenen und Soldaten auf dem Platz ins Gesicht.
Schließlich war ihr Kopf kahl, ihr Haar millimeterkurz. Sie lächelte mir beinahe dankbar zu, ein kleines, fast unsichtbares Lächeln.
"Ich bin froh, dass du es getan hast und nicht irgendein Fremder", flüsterte sie mir kaum hörbar zu. Ich lächelte zurück.
"Diese Frau ist eine Verräterin!", brüllte der Soldat. "Sie hat sich Befehlen widersetzt und ist aus diesem Grund von heute an ein Häftling. Ihre tägliche Ration, die ihr heute zustünde, wird unter den restlichen Arbeitern ihrer Schicht aufgeteilt"
An alle wurde ein Stück Brot und eine kleine Schale Wasser verteilt, mit Ausnahme von Vanessa, die mit leeren Händen neben mir stand, und mir. Auch ich bekam kein Essen, ohne Kommentar.
"Abtreten!"
Die Menge verstreute sich.
Zwischen den Menschenmassen sah ich Schöning, die blonde Soldatin. Schadenfroh grinsend blickte sie Vanessa hinterher, bis wir in der großen Schlafhalle verschwanden.•••••••
Auch das gegeneinander Aufhetzen haben die Nazis in den Konzentrationslagern getan. Zu diesem Zweck erhielt jede Minderheit einen sogenannten 'Winkel', ein farbiges Stoffdreieck, das auf ihre Kleidung genäht wurde. So bekamen Homosexuelle zum Beispiel einen rosafarbenen Winkel, Sinti und Roma einen braunen und Juden zwei Winkel übereinander zu einem Davidstern.
Rivalitäten unter den Häftlingen wurden gewollt, sogar gefördert, zum Beispiel indem die eine Gruppe an einem Tag mehr Essen oder weniger Arbeit bekam als eine andere.
So konnten etwa 100 Nazis ein KZ mit 14 000 Insassen unter Kontrolle halten.•••••••
Kleine Geschichtsstunde^-^
Hab nicht viel Zeit, aber ein Kapitel konnte ich trotzdem hochladen, nach fast einer Woche. Verzeiht mir.
Liebe geht raus an alle meine Leser :3
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War No More || Berliner Cluster
FanfictionÜberall herrschte Krieg. Jako musste dabei zusehen, wie einer seiner Freunde nach dem anderen starb. Mit nur noch einer Handvoll von ihnen, Rick, Frodo, Marti und Flo, kämpft er sich durch die Nachkriegszeit, die gezeichnet ist von Hunger, Krankheit...