Titel des 40. Teils

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Wir hatten uns aufgeteilt. Andre und Niklas waren hochgegangen, Steve war Rick nach unten gefolgt. Ich stand etwas unschlüssig herum und wandte mich schließlich wieder dem Atelier zu, aus dem mich die Kerzen warm anstrahlten.
Ich beschloss, mich erstmal hier umzusehen.
Der Raum war relativ leer, nur in einer Ecke stand ein alter Schrank und in einer anderen ein unter einem Tuch verstecktes Gebilde.
Ich ging zuerst zu dem Gebilde und hob vorsichtig das Tuch an. Es war die Statue, an den ich vor all den Wochen den alten Mann hatte arbeiten sehen. Es schien noch immer nicht fertig, aber in einem deutlich fortgeschrittenen Zustand zu sein.
Ich ließ das Stofftuch wieder darüber gleiten und wandte mich dem großen Schrank mit den rostigen Schlössern zu.
Er stand in der Ecke wie ein einsamer, stiller Wächter.
Ich legte meine Hand auf den Knauf und zog erst vorsichtig, dann kräftig an dem Schrank. Schließlich sprang die Tür auf und ich stolperte einige Schritte zurück.
Der Schrank war leer, doch etwas war seltsam... Hatte Jako nicht von genau so einem Schrank erzählt? Mit einer auffallend hellen Rückwand... Ich tastete alle Ecken ab und fand schließlich einen Knopf, den ich drückte. Die Rückwand glitt zur Seite und gab den Blick auf einen Raum frei. Dort stand ein Bett und einige Regale. Ich ging näher zu einem Regal und pustete den Staub von den Brettern und dem Krimskrams, der sich darauf befand:
Merkwürdig aussehende Würfel und Kugeln, getrocknete Kräuter, Farben, Pinsel, Bücher...
Ein besonders dickes und altes Buch zog meine Aufmerksamkeit auf sich.  Es hatte keinen Titel, und die Seiten waren aus altem Pergament, sodass ich sie ganz vorsichtig umblätterte, weil ich Angst hatte, sie könnten zu Staub zerfallen. Das Kapitel, das ich aufschlug, trug den Titel: 'Wie man auf die andere Seite gelangt'.
Dies musste das Buch sein, dass Jako bei Jaucke gefunden hat!

Wie man auf die andere Seite gelangt

Nicht nur Wächter können zwischen den Welten springen. Auch Menschen haben diese Möglichkeit. Jedoch ist es ungemein gefährlich, weshalb das erste Weltenwechseln stets in Begleitung eines Wächters geschehen sollte.
Zuerst muss sich derjenige, der zwischen den Welten springen möchte, von dieser Welt lösen. Dies tut er automatisch, wenn er die Zwischenwelt betritt, doch beim Weltenspringen muss er sich erst vollständig von dieser Welt entfernen, also nicht nur seinen Geist in die Zwischenwelt befördern, sondern sein gesamtes Dasein, Körper, Geist und Seele, aus dieser Welt zu entfernen. Das ist für Laien äußerst schwierig bis unmöglich, weshalb hier noch einmal zur Anwesenheit eines Wächters geraten wird.
Erst wenn sich die Person vollständig von dieser Welt gelöst hat, darf sie die Zwischenwelt betreten. Man kann immer nur in eine Richtung gehen und nicht umdrehen, also muss man einmal in der anderen Welt gewesen sein, von der Zwischenwelt ist es nicht möglich, sofort in seine eigene Welt zurück zu gelangen, es ist immer der Wechsel zur anderen Welt vorausgesetzt.
An der Stelle war ein großer Fleck, nur das Wort 'Gluttony' war zu lesen.
Ich stöhnte auf, las dann aber weiter.
Dem Menschen, der das hier liest, sei gesagt: Das Weltenspringen ist gefährlich. Hat man keinerlei Erfahrung im Betreten der Zwischenwelt, kann der Körper zerrissen werden und die Seele für immer zwischen den Welten gefangen sein.

Ich konnte es kaum glauben: Hier, direkt vor mir, lag die Lösung! Ich konnte zu Jako auf die andere Seite gelangen und ihn und die anderen zu mir holen!
Ich schlug das Buch zu und legte es zurück in das Regal, dann bezog ich in der Mitte des Raumes Position.
Ich schloss die Augen und... Wie löst man seinen Körper von dieser Welt?
Ich versuchte gar nicht erst, sofort in die Zwischenwelt zu gelangen, denn in dem Buch stand, dass das nicht der richtige Weg ist. Ich musste erst von dieser Welt loskommen.
Vor meinem geistigen Augen entstand das Bild, das Rick vor ein paar Wochen an die Tafel gemalt hatte.
Eine Welt des Friedens. Eine Welt des Krieges.
Dazwischen die Zwischenwelt, die durch unsere Gedanken formbar ist. Sie sah noch immer aus wie eine Raststätte.
Und noch während ich diese drei Welten vor mir sah, wurde mir klar, dass ich es geschafft hatte.
Mein Körper, meine Seele, mein Geist, all das existierte in keiner der Welten mehr. Ich betrachtete die Autobahnraststätte, die direkt unter mir lag, aber mit einem grauen Schleier bedeckt.
Der Körper kann zerrissen werden und die Seele für immer zwischen den Welten gefangen sein.
Ich zögerte nur eine Millisekunde, dann tauchte ich in die Zwischenwelt ein.
Ich öffnete meine Augen wieder. Etwas war anders, ich... ich konnte nicht mehr zurück.
Aber genau das hatte ich ja gewollt. Ich sah mich um. Flo saß noch immer an der Theke auf einem Barhocker, mit einer Flasche Mate vor sich. Hinter der Theke stand der Kellner, der mir schon vorhin aufgefallen war, und putzte ein Glas. Alles war sehr detailreich, nur das Gesicht des Kellners lag im Schatten und ansonsten hatte das Bistro keine Gäste.
"Hey, du wirst ja immer besser", begrüßte ich ihn.
"Naja, wenn man Durst bekommt, wird man... erfinderisch", grinste Flo und zog sich die Cap etwas tiefer ins Gesicht.
"Durst?"
"Ja, Felix, Durst. Das ist das, wenn deine Zunge langsam, aber sicher zu einer staubigen Socke wird und dein Hals kratzt"
"Aber... Hier in der Zwischenwelt... Hat man hier überhaupt solche Bedürfnisse?"
"Du vielleicht nicht, du bist ja eigentlich in der wirklichen Welt. Aber ich komm hier nicht weg, ich bin hier gefangen"
"Genau genommen... Stimmt das nicht mehr ganz. Ich bin nicht mehr in meiner Welt"
"Was?"
"Naja, da war dieses Buch... In dem stand, wenn man auf die andere Seite gelangen möchte, muss man sich von seiner eigenen Seite vollständig lösen. Deshalb stehe ich hier, in Fleisch und Blut... Aua!"
"Sorry, wollte mich nur vergewissern, dass du keine Halluzination bist, die ich mir bloß eingebildet habe"
"Spast!", lachte ich und reibe mir die Schulter, gegen die er geboxt hatte.
"Hey, heißt das, du kannst mich jezz zurück in deine Welt nehmen?" Seine Augen glänzten freudig.
"Da ist ein kleiner Haken... Ich kann nur in eine Richtung und du auch. Ich komme aus der friedlichen Welt, muss also zu Jako. Du kommst von dort, kannst also nur in meine Welt, also zu Rick und Steve und so weiter"
Seine Augen wurden dunkel vor Enttäuschung.
"Tut mir leid. Ich kann mir vorstellen, wie scheiße die Zwischenwelt auf Dauer ist..." Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter.
"Ach, es geht. Nur die Gespräche sind etwas... eintönig"
"Naja, hier ist ja auch niemand außer ihm" Ich nickte dem Kellner zu. Er blickte nicht von seinem Glas auf, das er noch immer putzte.
"Nein, er ist vollkommen in Ordnung. Die anderen, mit denen ich geredet habe, waren langweilig. Naja, als eine einzelne Person kann ich mir schlecht ein interessantes Gespräch ausdenken"
Er zuckte mit den Schultern.
Mitleid ergriff mich, doch ich wurde abgelenkt, von der Person, die vor uns stand und endlich das Glas wegstellte. Dann nahm sie sich ein neues und begann erneut, es zu polieren.
Ich starrte die Person an, doch ihr Gesicht wurde nicht klar. Eigentlich müsste ich ihr Aussehen mit meinen Gedanken verändern können, doch stattdessen stellte sie das Glas hin und verschwand in die Bistroküche.
"Flo? Wer ist das?"
"Na, der Kellner"
"Hast du ihn erschaffen?"
"Nein, er war die ganze Zeit schon da"
"Komm mit" Ich glitt von meinem Hocker und zog Flo zur Küchentür, die seltsamerweise der Schranktür in dem Atelier ähnelte.
Doch anstatt einer gefliesten Küche mit vielleicht ein paar Herden und Hängeschränken fand ich dasselbe Zimmer vor, in dem ich vorhin meine Welt verlassen hatte. Und auf dem Bett saß der Kellner, ein alter Mann mit unergründlich tiefen, fast schwarzen Augen.
Ich hatte ihn schon einmal gesehen, in dem besetzten Haus, vor ein paar Wochen, als er an der Skulptur arbeitete.
Und vor zwei Jahren habe ich ihn fast täglich gesehen...
"Jaucke!"

•••••••

Mir ist kalt, ich muss noch ne halbe Stunde Bus fahren, was aufm Dorf irgendwie gruselig ist, mein Akku versagt gleich, aber ich wollte dieses Kapitel mit euch teilen^-^
Ich habe Mate und noch 10%, das muss reichen.

War No More || Berliner ClusterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt