Titel des 4. Teils

59 6 2
                                    

Die frühe Morgensonne und mein knurrender Magen weckten mich. Ich erhob mich und ging zu Frodo und Flo. Frodos Kopf lag auf Flos Brust, er schlief noch, doch Flo war wach, strich ihm sanft durch die Haare und lächelte.
Als er mich bemerkte, hielt er sich einen Finger vor den Mund und bedeutete mir, leise zu sein.
"Er war fast die ganze Nacht wach", flüsterte er heiser.
Ich lächelte ihm zu. "Wo ist Marti?"
"Grade eben losgegangen, um Essen zu holen, Medikamente und... um Rick zu suchen"
Ich schluckte schwer.
"Wie lange ist er schon weg?"
"Fünf Minuten, mehr nicht"
"Ich geh ihm nach, bis später"
"Pass auf dich auf"
Ich sprintete durch die Stockwerke und übersprang mit Leichtigkeit die Stufen, die lose waren oder ganz fehlten.
Dann lief ich den gewohnten Weg zu Jaucke, sah mich aber immer wieder um.
Dort vorne ging Marti, im Schutz des morgendlichen Schattens, den die dicht gedrängten Häuser der Großstadt warfen. Ich holte ihn schnell ein, rief seinen Namen schon von Weitem, damit er mich nicht für einen Fremden hielt.
"Ich war grade auf der Suche nach..." Er brach ab.
"Rick", vollendete ich seinen Satz tonlos. "Komm mit"
Ich führte ihn in die Gasse, wo ich gestern Rick zurückgelassen hatte.
Wir hoben die Plane nicht an, sondern wickelten ihn nur darin ein und brachten ihn zu Jaucke.
Als wir durch seine Tür gingen, klingelte es.
"Ich habe endlich die Türglocke repariert!", rief er uns fröhlich entgegen, doch als er unsere Last sah, verstummte er.
"Flo?", fragte er nur.
"Rick. Erschossen, gestern", erklärte ich ihm.
"Kommt mit..."
Er führte uns in sein Hinterzimmer. Wir legten Ricks Leiche auf eine Liege und zogen die Plane ab. Er sah aus, als ob er schliefe, nur das Blut erinnerte an den tödlichen Schuss.
Ich schluckte. Marti lief eine Träne über die Wange.
"Überlasst ihn mir"
Was er mit unseren toten Freunden machte, wussten wir nicht, aber morgen würde ein kleines Holzkreuz in Jauckes Garten stecken, mit Ricks Namen darauf, neben Steves und Felix'.
Marti besprach mit Jaucke etwas, erklärte ihm, dass wir auf der Flucht den Korb verloren hatten, während ich durch eine kleine versteckte Tür in den Hinterhof ging. In einer Ecke war der 'Friedhof', hier standen ein paar Kreuze von Leuten, die Jaucke gut gekannt hatte.
In einer Ecke, noch relativ neu, stand ein Kreuz. Daneben ein älteres, verwitterteres.
Steve.
Und Felix.
Ich betrachtete die Schrift, sie verschwamm vor meinen Augen. So lange war Felix schon von uns gegangen, fast zwei Jahre, ermordet, wegen eines Apfels, den er in der Hand hielt, zur falschen Zeit am falschen Ort.
Steve war erst vor ein paar Monaten gestorben, an einer Infektion. Er war langsam gestorben, der Tod war am Ende eine Erlösung.
Mein Blick, immer noch von Tränen getrübt, richtete sich gen Himmel.
"Ist er jezz bei euch? Wo seid ihr? Geht es euch gut?"
Keine Antwort.
Meine Augen richteten sich wieder den Kreuzen zu, ich sah immer noch nicht scharf, versuchte, die Tränen wegzublinzeln, plötzlich - Felix Gesicht! So klar, als stünde er vor mir. Ich hielt die Augen geschlossen, das Bild brannte sich in meine Netzhaut. Er zwinkerte mir zu. Neben ihm standen Rick und Steve, Arm in Arm, und lachten mich an. Dahinter unsere anderen Freunde, die schon so früh gestorben waren, gleich am Anfang. Sonst tauchte sie nie in meinen Visionen auf, doch dort standen sie, als hätten sie nur eine Woche Urlaub gemacht.
Tommy. Andre. Olli. Nilo. Dominik. Anna. Ina.
So viele.
Ich lächelte und wollte die Augen nie wieder öffnen.
Rick hatte keine Schusswunde, Steve trug wieder seine Brille, die ihm kaputtgegangen war, und Felix' Haare waren gewachsen.
"Jako", sagte er deutlich.
"Jako"
"JAKO! Hey, hörst du mich? Bist du eingeschlafen?"
Jemand rüttelte leicht an meiner Schulter.
"Ich habe sie grade gesehen, Marti. Alle. Es geht ihnen gut"
Marti sagte nichts dazu und zog mich von den Kreuzen weg.
"Jaucke hat mir neue Vorräte gegeben, zum halben Preis! Und Medikamente für Flo. Ist das nicht großartig?"
Ich nickte, versuchte mich mit ihm zu freuen, doch Felix' Anblick hatte mich aus der Bahn geworfen. Es sah so aus, als lebte er weiter, irgendwo anders.
Warum sah er sonst so anders aus, etwas älter, mit längerem Haar?
Den ganzen Rückweg lang sagte ich kein einziges Wort.

War No More || Berliner ClusterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt