In aller Frühe weckte mich ein gebrüllter Befehl.
"Alles aufstehen zum Morgenappell!"
Ich erhob mich. Rechts von mir lag Frodo, links Karl. Seine Eltern waren fort.
Frodo lag mit offenen Augen da, Karl schlief noch.
"Hey, hast du überhaupt geschlafen?"
"Weiß nicht. Eher nicht", murmelte er abwesend.
Da hörten wir viele Schritte.
Viele Gefangene kamen in den Raum, mit müden Gesichtern, doch einem entschlossenen Ausdruck.
Was hatten sie vor?
Da fing auch schon der erste an, die Schlafenden aus ihren Betten zu ziehen, um sich selbst einen Platz zu sichern, genau wie Karl gesagt hatte. Noch waren sie am Anfang des Raumes, doch bald würden sie hier sein.
"Los, Frodo, aufstehen"
Er tat, wie ihm geheißen.
Ich blickte auf den schlafenden Karl hinab.
Da kam auch schon ein Gefangener.
"Weckt ihn. Wir wollen auch schlafen"
"Er ist so klein, für ihn habt ihr bestimmt noch einen Platz, oder? Er hat die ganze Nacht um seine Eltern getrauert"
Der Blick des Häftlings wurde etwas weicher.
"Na gut. Aber ich kann nicht auf ihn aufpassen, ich hab meine Schwester und ihre Tochter" Hinter seinem Rücken schaute eine kleine Frau hervor, neben ihr ein junges Mädchen mit dunklen Zöpfen.
"Er braucht nur etwas mehr Schlaf. Danke"
Ich drehte mich um und ging auf die großen Türen zu. Werde ich Karl je wiedersehen, nun, da er in die 'andere Schicht' gerutscht ist?
Auf dem großen Appellplatz, auf dem gestern noch Flos Leiche gelegen hatte, standen nun die eben geweckten Häftlinge Reihe um Reihe.
Ich stellte mich mit Frodo in die letzte.
Vorne rief der Hauptmann jeden Häftling beim Namen, er las sie von einer Liste ab.
Jeder rief "Hier!", wenn sein Name verlesen wurde.
Bei Karls Namen jedoch blieb alles ruhig.
"Er... ist krank!", rief ich nach einigen Sekunden.
Der Hauptmann blitzte mich an.
"Er ist bei der anderen Schicht. Er brauchte nur etwas mehr Schlaf, das ist alles... Seine Eltern sind gestorben"
Er brummelte irgendwas, offensichtlich war ihm der Junge nicht wichtig genug, denn er wandte sich ab.
Dann löste sich die Masse auf, jeder ging mehr oder weniger zielstrebig in eine Richtung.
Ich nahm Frodos Arm und zog ihn mit zum Hauptmann.
Frodo wehrte sich immer mehr, je näher wir ihm kamen.
"Ah, ihr seid die Neuen! Wollt sicher wissen, was ihr für Arbeit bekommt, was?", fragte der bullige Hauptmann.
Ich nickte stumm. Sein Blick wanderte zu Frodo.
"Du gehst zum Graben-Schaufeln. Und ihn-" Er schnipste einmal in Frodos Richtung. "Ihn will ich in meinem Büro sehen"
Ich sah Frodo an, doch er blickte nur stumm zu Boden.
Der Hauptmann nahm ihn überraschend sanft an den Schultern und führte ihn weg.
Ich sah mich ratlos um.
Graben?
Ich ging auf Gut Glück in den hinteren Teil der Basis. Hinter einigen Baracken kam ein Flusslauf zum Vorschein, und als ich noch ein paar Meter weiterlief, erblickte ich viele Arbeiter, bis zu den Knien im Schlamm, die einen Graben aushoben.
Ein Soldat beaufsichtigte sie.
"Du bist der Neue, der Verräter Joiko?", rief er mir zu.
Ich nickte schnell.
"Schaufel nehmen, graben!", befahl er.
"In welche Richtung graben?"
"GRABEN!"
Ich zog den Kopf ein, nahm mir eine Schaufel und suchte einen freien Platz zum Graben. Schließlich fand ich einen, zwischen zwei anderen Arbeitern. Sie trugen den festen Schlamm ab, der dann in wadentiefe Pfützen fiel. Von dort mussten sie ihn an den meterhohen Rand schippen.
Beide sahen erschöpft und abgemagert aus, das Gesicht unkenntlich gemacht von vielen Schichten Schlamm. Sie hatten sich schon seit langem nicht mehr die Mühe gemacht, ihn abzuwaschen.
Ich begann mit meiner Arbeit, folgte jeder ihrer Bewegungen.
Schon nach ein paar Stunden schmerzten mir die Arme, der Rücken, mein ganzer Körper.
Es war eine stille Arbeit, bis auf das gelegentliche Schmatzen und Platschen des Schlammes war nichts zu hören.
Die Arbeiter sahen sich nicht an, hatten ihren Blick wie Maschinen nur auf ihre Arbeit gerichtet.
Bald merkte ich, dass man nicht besonders lange durchhielt, wenn man nicht wie ein Roboter funktioniert. Also machte ich es ihnen nach, verbannte alle Gedanken aus meinem Kopf und konzentrierte mich nur auf die Arbeit.••••••••••
Es gibt ein KZ in Neuengamme, das ist irgendwo in Niedersachsen, wir haben dorthin mal einen Schulausflug gemacht.
Wenn ich diese Zeilen schreibe, habe ich es wieder genau vor Augen, den Appellplatz, die Umrisse der Baracken, die Gedenksteine und -tafeln, die vielen Fotos in der Ausstellung... und diesen Graben. Es gab wirklich einen Graben, bis zur Elbe hin. Die Arbeiter haben ihn genauso ausgehoben, wir ich es beschrieben habe, mit keinerlei Hilfsgeräten außer ihren Schaufeln. Sie standen knietief in Schlamm und Dreckwasser, selbst im Winter, stundenlang. Viele wurden krank, viele starben. Andere nahmen ihre Stelle ein und starben wieder.
Es gab zu der Zeit schon Maschinen, die die Arbeit viel schneller und effizienter hätten erledigen können.
Aber das war nicht das Ziel der Nazis.
In Neuengamme gab es zwar auch richtige Werkstätten, in denen es den Gefangenen nicht ganz so schlecht ging, in denen es wirklich darum ging, dass etwas produziert wurde.
Doch bei diesem Graben ging es nicht darum.
In Neuengamme gab es keine Gasduschen, es war kein sogenanntes "Vernichtungslager".
Es war ein Arbeitslager.
Dort wurden keine Leute einfach so umgebracht.
Das Motto lautete:
"Vernichtung durch Arbeit"
Lasst die Leute solange so hart arbeiten, bis sie nicht mehr können und zusammenbrechen.
Das war das Ziel von Neuengamme. Hunderttausende an Menschen sind dort umgekommen.
Und dies war nur eines von vielen Lagern.Jezz wisst ihr, was in meinem Kopf vor sich geht, wenn ich diese Basis beschreibe.
Ich bin mir im Klaren darüber, dass ich den Umständen, den Toten so niemals gerecht werden kann, ich war nicht dabei, ich habe es nicht erlebt.
Aber ich kann davon erzählen.
So leben die Toten weiter, indem man ihr Leben würdigt.
Indem man an sie denkt, an ihr Leiden, ihre Qualen.Deshalb kam auch so lange kein Kapitel. Ich musste mir erstmal im Klaren darüber werden, wie ich weitermache.
Dieses Erlebnis, dieser Ausflug nach Neuengamme hat mich geprägt. Ich hoffe, ich konnte diese Atmosphäre zumindest ein bisschen für euch einfangen.
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War No More || Berliner Cluster
FanfictionÜberall herrschte Krieg. Jako musste dabei zusehen, wie einer seiner Freunde nach dem anderen starb. Mit nur noch einer Handvoll von ihnen, Rick, Frodo, Marti und Flo, kämpft er sich durch die Nachkriegszeit, die gezeichnet ist von Hunger, Krankheit...