Titel des 6. Teils

62 4 3
                                    

Stunden, so kam es mir vor, irrten wir durch die Gassen Berlins. Große Straßen mieden wir, so gut es ging, und immer weiter entfernten wir uns von unserem gewohnten Zuhause. Wir waren jahrelang in Berlin Mitte geblieben, doch jezz verließen wir es und zogen in die Richtung der Randgebiete, wo das Millitäraufgebot nicht so hoch war, wo allerdings auch die Essensbeschaffung schwieriger sein würde.
Wir durchquerten in der Nacht ganz Kreuzberg und gelangten schließlich nach Tempelhof. Im Laufe der nächsten Tage wollten wir Nacht für Nacht unseren Standort immer wieder wechseln, bis wir nach Neukölln gelangen würden. Wie es danach weiterging, würden wir dann sehen.
Während wir uns nach einer geeigneten Bleibe umsahen, legte ich den Kopf in den Nacken. Seit es keinen Strom mehr gab, konnte man selbst in Berlin Mitte die Sterne sehen, tausende und abertausende kleine helle Punkte.
Gasriesen, die in unendlicher Entfernung verbrennen.
Ich verlor mich im Anblick der Sterne, und plötzlich sah ich wieder Felix vor mir, ganz deutlich.
"Jako", sagte er. "Jako, mir geht es gut. Ich bin zu Hause. Komm zu mir"
Die Straße stand auf und rammte mir ins Gesicht.
"Jako, alles ok? Bist du verletzt?", fragte Frodo besorgt, während Marti zu mir rannte und meine Nase untersuchte.
"Keine Sorge, bin nur gestolpert..."
Marti betrachtete mich lange und wissend, ich blickte ihm tief in die Augen und sagte leise: "Später"
Er nickte, half mir auf und wir holten Frodo ein, der gleichmäßig weitergegangen war, immer noch mit Flo über der Schulter, doch sein Gang wurde allmählich schwerfälliger. Er versuchte, seinen Rhythmus zu halten, versuchte, für Flo stark zu bleiben.
"Hey, Frodo, ich übernehme ihn mal", murmelte ich ihm ins Ohr. Er ließ Flo nur zögerlich los.
"Keine Angst, nochmal fall ich nicht", lachte ich, gab ihm einen der Rucksäcke und stützte dafür Flo. Dieser ging stolpernden Schrittes, die Augen halb geschlossen.
Ich warf ihm einen besorgten Blick zu, Frodo beobachtete ihn auch ganz genau.
"Hey, wie wärs denn mit dem dort?", rief plötzlich Marti leise, der als Einziger noch weiter Ausschau nach einem Dach über dem Kopf gehalten hatte.
Es war ein ehemaliges besetztes Haus, die Fenster waren mit Brettern verrammelt und die Tür zugenagelt. Marti holte aus Frodos Rucksack ein Brecheisen und gemeinsam brachen sie die Tür auf. Der Krach war bestimmt noch drei Straßen weiter zu hören, doch uns war, seit wir losgegangen waren, keine Menschenseele begegnet.
Wir schleppten uns die Treppe hoch, sie war besser in Schuss als die unseres letzten Hauses, doch wir waren müde und stolperten trotzdem immer wieder.
Oben angekommen öffnete Marti die Tür zu einer Wohnung und sagte betont fröhlich: "Home Sweet Home"
Überall hingen Spinnenweben, die Tapete war von den Wänden gerissen, es gab keine Türen, doch bei näherer Betrachtung hatte die Wohnung auch etwas Gutes, zum Beispiel den Teppich, der zwar reichlich verstaubt war, doch die Wärme speichern konnte. Oder die Bretter vor den Fenstern, die zwar das Licht ausschlossen, aber auch den Wind und neugierige Blicke. Oder bunt zusammengestelltes Mobiliar, das nicht angefasst worden war, seit das Haus abgeriegelt war, und das die vielen Hausbesetzer dieses Hauses vor Jahren zusammengetragen hatten.
"Hier ist sogar ein kleiner Ofen!", jubelte Frodo.
Ich ließ Flo auf die große Matratze eines massiven Doppelbettes sinken und deckte ihn mit einer Decke, die tatsächlich auch hier herumlag, zu. Er schloss erschöpft die Augen und sagte, wie die letzten paar Stunden schon, kein Wort mehr.
Frodo inspizierte weiter die Einrichtung, während Marti auf das Dach gegangen war. Ich folgte ihm die Treppe hinauf und erblickte ihn am Rand des Daches. Er blickte auf die Trümmer hinunter, die einmal Berlin gewesen waren.
Unser Zuhause, damals wie heute.
"Schau, Jako", sagte er, ohne sich umzudrehen.
"Siehst du das?"
"Die Zerstörung? Die Trümmer?"
"Nein. Die Menschen"
"Ich sehe niemanden"
"Dort, im Fenster gegenüber, schau, hängen frisch gewaschene Gardinen. Und Pflanzen stehen auf dem Fensterbrett, noch vollkommen lebendig.
Da drüben hängt Wäsche auf einer Wäscheleine zwischen den zwei Häusern. Und dort, siehst du? Dort flackert ein kleines Kerzenlicht. Und dort auch! Und da drüben! Und da!" Begeistert zeigte er auf all die Lebenszeichen, die Zeichen dafür, das die nächste Militärbasis kilometerweit entfernt war.
Ich ließ mich von seiner Begeisterung anstecken.
"Glaubst du... Glaubst du, wir können hier bleiben?"
"Fürs erste auf jeden Fall. Mal schauen, wie leicht man hier an Essen kommt. Aber mit Flo kommen wir nicht weit, er muss sich unbedingt ausruhen"
"Aber wir wollten doch weiter nach Neukölln"
"Wer weiß, ob wir dort auf so eine gute Bleibe stoßen. Unwahrscheinlich"
"Marti?"
"Ja, Jako?"
"Danke"
"Wofür?"
"Für alles"
Marti drehte sich überrascht zu mir.
"Ich habe doch gar nichts gemacht...?"
"Du bist unser Fels in der Brandung. Du denkst dir die ganzen Pläne aus, du hörst jedem zu, du führst uns durch Berlin, als wäre es deine Westentasche. Wer weiß, wie oft du uns schon das Leben gerettet hast"
Martin Augen wurden dunkel.
"Nicht allen"
"Es geht ihnen gut" Ich weiß nicht, woher ich meine Zuversicht nahm, aber ich war mir meiner Worte absolut sicher.
Ich hatte keine Ahnung, ob Marti mich nicht gehört hatte oder nur ignorierte, zumindest schwieg er.
Mein Blick versank in den frischen Pflanzen im Fenster gegenüber, deren Umriss man dank des Mondes und einer schwach flackernden Kerze dahinter klar erkennen konnte.
Und plötzlich wurde das Licht gleißend hell, und Felix stand vor mir.
"Jako, hörst du mich? Es geht mir gut! Ich weiß nicht, was das ist, oder warum es passiert. Geh zu Jaucke!" Ich stolperte zurück, Marti fing mich auf, hielt mich fest und betrachtete mich besorgt.
"War er wieder da?"
"Ja, er... er hat mit mir geredet... er sagte, wir sollen zu Jaucke gehen", antwortete ich verwirrt stotternd.
Marti umarmte mich, lange und fest, als wolle er verhindern, dass ich davongetrieben wurde.
"Jako... Felix ist tot" Er sah mir fest in die Augen.
"Ich weiß, aber... Ich weiß nicht, es wirkt nicht wie Einbildung!"
"Wir sollten den anderen davon erzählen. Wenn du nochmal ohnmächtig wirst, dann erschrecken sie sich nicht"
... Ich bin ohnmächtig geworden?

•••••••••••••••••

Ich musste erstmal nen Atlas wälzen, weil ich keine Ahnung von Berlin bzw. den einzelnen Vierteln habe xD

War No More || Berliner ClusterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt