Titel des 43. Teils

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Vanessa blickte mich an. Ich war schweißgebadet erwacht, zumindest dachte ich das. Als ich über meine vermeintlich schweißnassen Wangen wischte, merkte ich, dass es in Wirklichkeit Tränen waren.
"Was ist los, Jako?"
"Ich habe es... In die andere Welt geschafft"
Vanessa's Augen, die, seit wir uns wieder gesehen hatten, getrübt und traurig waren, betrachteten mich plötzlich aufmerksam. Ich konnte ihren Blick nicht ganz deuten, aber sie schien deutlich weniger verwirrt, als ich es angenommen hätte. Trotzdem begann ich zu erklären:
"Die andere Seite... Die Zwischenwelt... Es ist kompliziert"
So schnell wie möglich erzählte ich Vanessa alles.
"Und eben war ich seit vielen Wochen wieder mit Felix in Kontakt. Flo war auch dort, aber weder Frodo noch... noch Marti. Es scheint, dass er wirklich tot ist"
Vanessa schwieg einen Moment, sie schien zu überlegen. Ich sah ihr dabei zu, wie sie all die Informationen verarbeitete.
"Darum haben sie ihn verfolgt...", murmelte sie. "Dafür brauchten sie ihn... Jako! Marti ist nicht tot! Es tut mir leid, dass ich es dir nicht vorher gesagt habe, ich habe gar nicht mehr daran gedacht: Er ist hier!"
"Aber... Ich habe ihn doch sterben sehen! Wie ist das möglich? Er wurde erschossen, ich habe zwei Schüsse gehört!"
"Ja, in sein Bein und seine Schulter. Wir konnten ihn nicht sterben lassen, er war doch viel zu wichtig!"
Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Vanessa sprach von 'Wir' und mir wurde schlagartig wieder bewusst, dass sie vor wenigen Tagen noch beim Militär gewesen ist.
"Deshalb konnte er auch nicht in die Zwischenwelt, weil er hier gefangen ist! Ich habe ihm selbst Essen zugeschmuggelt!"
"Du hast ihn gesehen? Wie geht es ihm?"
"Naja, er wurde gefoltert, und ich konnte seine Schusswunden nicht anständig behandeln... Aber er lebt, Jako! Und wir werden ihn befreien!"
Ihre Augen leuchteten, wie ich es bei ihr zuletzt vor all den Jahren gesehen habe, als sie noch glücklich mit Frodo zusammen war.
"Aber wie? Wie sollen wir ihn befreien?"
"Ich habe eine Idee...-"
"Alles aufstehen zum Morgenappell!", unterbrach sie der Befehl von draußen.
Vanessa sprach schnell und leise.
"Hör mir zu! Es gibt hier Wachdienste unter den Gefangenen, sogenannte Skeletons. Das sind Gefangene, die durch besonderen Ehrgeiz auffallen"
Solche 'Skeletons' sind mir auch schon aufgefallen. Es sind gemeine Menschen, die andere gerne in den Dreck treten, dafür mehr Essen bekommen und dadurch stärker als der Rest sind. Ich ahnte, worauf sie hinauswollte.
"So jemand will ich nicht werden, Vanessa!"
"Aber so bist du viel nützlicher! Du kannst Leute ausspionieren und Häftlingen helfen. Ich kann nichts tun, ich bin ein Hochverräter, ich kann von Glück sagen, dass sie mich noch nicht hingerichtet haben. Versuch es zumindest. Aber pass auf dich auf"
Mit diesen Worten schwang sie ihre dürren Beine über das Bettgeländer.
"Oh und noch etwas: Wenn du Skeleton werden willst, solltest du dich nicht mehr mit mir blicken lassen. Gleich, wenn wir rausgehen, nennst du mich Verräterin und schubst mich, verstanden?"
"Aber...-" "Tu es einfach, Jako!"
Ihr herrischer Ton holte mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Wir mussten überleben. Wir mussten die anderen retten. Langsam verstand ich, was Vanessa dazu angetrieben hatte, zum Militär zu gehen. Der Wunsch, zu überleben.
"Vertrau mir", sagte sie noch einmal und kletterte vom Bett hinunter. Ich folgte ihr.
Wir traten nebeneinander auf den Appellplatz, die Sonne blendete mich.
"Jezz, Jako! Sie schauen alle", flüsterte Vanessa. Ich konnte einen Moment nichts sehen durch die brennend weißen Sonnenstrahlen, doch Vanessas Ton trieb mich zur Eile an. Also streckte ich meine Hand aus und berührte ihre Schulter. Sie ließ sich mit einem Aufschrei fallen und hockte am Boden. Von unten sah sie mich abwartend an. Alle Aufmerksamkeit lag auf mir. Ich wusste, was zu tun war.
"Verräterin!", rief ich aus, das Zittern in meiner Stimme unterdrückend.
Dann ging ich einfach weiter zu der Menschenmenge und schenkte Vanessa keine Beachtung mehr.
Auch wenn ich ihr nicht wirklich wehgetan hatte, nagte das schlechte Gewissen an mir.
Hatte sie sich beim Sturz wehgetan?
Was sollten die anderen Gefangenen von mir halten? Haben die Soldaten mein Verhalten überhaupt mitbekommen?
War am Ende alles umsonst, nur dass ich nicht nur das Militär, sondern auch die Inhaftierten gegen mich hatte?

Ich stand ganz vorne in der ersten Reihe und warf dem Wachmann, der heute die Namen verlas, einen festen Blick zu. Als er "Joiko!" rief, antwortete ich mit einem lauten "Anwesend!" anstatt einem kleinlauten "Hier!" wie die anderen.
Er musterte mich einen Moment lang und wandte sich dann ab.
Ein paar Namen später war Vanessa dran. Ihr "Hier!" schallte über den Platz. Man hörte die Soldatin in ihr.
Ich hatte Angst um sie, als sie kurz darauf weggeführt wurde, doch sie schüttelte die Hand des Soldaten ab und ging erhobenen Hauptes neben ihm her. Die Aussicht, dass wir hier drin vielleicht nicht sterben werden und dass auf der anderen Seite ein besseres Leben auf uns wartet, schien ihr die Lebenskraft zurückgegeben zu haben. Schnell sah ich wieder nach vorne und erblickte den Wachmann, der grade Dienst zu haben schien. Er unterzog mich erneut einer genauen Musterung und warf einen Blick in die Richtung, in der Vanessa verschwunden war.
Dann nickte er mir zu und drehte sich weg.

War No More || Berliner ClusterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt