»Oh. Okay.« Malia hatte nicht einmal geblinzelt, und schon schnippte Morpheus mit den Fingern. Der aufkommende Wind blies Malia das Haar ins Gesicht und fast entwich ihr ein Keuchen, als sie hinabblickte in das Tal, das sich wie von Zauberhand vor ihnen aufgetan hatte. Nur wenige Meter vor ihren Füßen befand sich ein Abgrund, während sie auf einer Klippe standen, die von einem grün überwucherten Berg abging. Beinahe verlor Malia erneut das Gleichgewicht, als der Wind unter ihre Flügel fuhr und die Federn sich hoben. Anscheinend hatten ihre Schwingen ein Eigenleben entwickelt und lechzten nun nach der Höhe und dem Wind.
»Wo sind wir?«, fragte Malia.
»Immer noch dasselbe Land, nur irgendwo anders. Hier gibt es keine Karten oder Kompasse, weil sich die Landschaft laufend verändert. Jeder Mensch hat so seine eigene Traumlandschaft und wir befinden uns gerade in einer davon.«
»Wie kommst du dann hier zurecht?«
Morpheus zuckte mit den Schultern und steckte die Hände in die Hosentasche »Ich muss nicht jeden Winkel kennen, aber meistens genügt eine vage Vorstellung, wohin ich will und was ich will und es geschieht.«
»Das klingt, als wärst du ein Gott.« Der Sarkasmus in Malias Stimme war nicht zu überhören und was sie davon hielt. Zu ihrer Überraschung lachte Morpheus leise auf.
»Alles hat seine Grenzen, auch meine Macht. Aber jemand muss schließlich diesen Job machen.«
»Wie sieht der überhaupt aus? Ich meine, was machst du den ganzen Tag?«
Er hob den Kopf und betrachtete zwei Greifvögel, die ihre Runden über ihren Köpfen zogen.
»Was würde mit den Menschen geschehen, wenn sie nicht mehr träumen würden? Viele Leute glauben, sie würden überhaupt nicht träumen, aber das ist nicht wahr. Jeder träumt. Sie können sich nur nicht alle daran erinnern. Aber der Ursprung vieler lebensveränderten Ideen und Erfindungen, mal abgesehen von der Inspiration, die hier zum Überlaufen vorhanden ist, liegt vor dir. Ich sorge dafür, dass die Menschen ihre Träume bekommen, und ich bekomme im Gegenzug ihre Gefühle, Einblicke in verborgene Geheimnisse...Ihre Begierden.« Seine Augen blitzten tiefviolett auf.
»Du bist also der Sandmann?«, fragte Malia mit gerunzelter Stirn.
»Ich habe viele Namen.« Das Funkeln verschwand aus seinen Augen so augenblicklich, wie es gekommen war. »Das ist einer davon.«
Malia erschauderte.
»Wenn Menschen träumen, entstehen Energien.«, fuhr er fort. »Jede Nacht strömen wir aus und sammeln sie ein. Manche würden das den Grund nennen, warum Schlaf so erholsam ist. Keine Energieabladung, keine Ruhe. Das Gehirn braucht Schlaf so dringend wie das Atmen, die Menschen verarbeiten hier Dinge, den Alltag, Traumas, Ängste.«
»Was sind das für Wesen, die überall im Palast herumgeistern?« Morpheus wusste, von wem sie sprach und seine Miene verfinsterte sich ein wenig.
»Meine Brüder und Schwestern, Traumdämonen oder Schatten, nenn sie, wie du willst.«
Stumm betrachtete Malia Morpheus in aller Ruhe und es schien ihn nicht zu stören. Seit sie den Palast hinter sich gelassen hatten, wirkte er nicht mehr so angespannt. Seine Schultern waren heruntergesackt, als sei eine Last von ihm gefallen.
»Aber wie ist das möglich? Ich meine, du bist« Malia machte eine undeutliche Geste über seinen Körper hinweg »So. Sie sind, naja, Schatten. Ist da nicht etwas in der Biologie falschgelaufen?«
»Ich befehlige sie. Mein Vater ist der Schlaf, meine Mutter die Nacht. Und sie kann manchmal etwas...bösartig und unüberlegt handeln, diese Eigenschaften hat sie auf die Schatten übertragen, aber man kann uns nicht mit Menschen vergleichen.« Er sah aus, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber er schloss wieder den Mund.
Und was ist mit dir Morpheus?
Malia fuhr über ihren Unterarm und betrachtete das Mal, das er dort zurückgelassen hatte.
»Warum hast du das getan?«
»Es bindet dich an diesen Ort, an mich. Falls dein Körper sterben sollte, verhindert es, dass deine Seele weiterwandert und verschwindet.«
»Und außerdem eine ziemlich praktische Methode, mich aufspüren zu können.«, fügte Malia trocken hinzu. Morpheus widersprach ihr nicht.
Er trat bis an die Kante, der Wind wirbelte sein Haar wild umher. Kleine Steine flogen in den Abgrund.
»Ich verlange nicht, dass du die Gründe dafür verstehst.«
»Dann ist ja gut.« Sein Rücken hob sich, als würde er tief einatmen. Er spreizte die Flügel ein wenig.
»Er sieht so verloren aus!«
»Komm her.«, befahl Morpheus ihr. Malia hielt ihren Frust nur mühsam zurück.
Sie trat neben ihn und sah hinab in den kilometertiefe Leere. Ein Schritt würde genügen, und sie würde fallen wie ein Stein.
»Vertraust du mir?« Morpheus Stimme wurde vom Wind davongetragen.
»Muss ich das wirklich beantworten?«, fragte Malia mit hochgezogener Augenbraue. Ihr Herz klopfte vor Aufregung und trotz ihres Spottes stieß Morpheus ein leises Lachen aus, bevor er mit den Schultern zuckte.
»Auch egal.« Morpheus stellte sich dicht neben Malia und sie runzelte die Stirn.
»Was tust du da?«
»Warte einige Sekunden, dann breitest du sie aus, der Rest geht fast schon von alleine. Hab keine Angst und richte den Blick immer in eine Richtung, sonst wird dir schwindelig. Und jetzt flieg!«
Malia spürte den leichten Druck einer Hand auf ihrer Wirbelsäule und eine heftige Windböe, die keinesfalls natürlichen Ursprungs war, reichte aus, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Ihr Schrei verlor sich, wurde zerrissen, als sie über die Kante ins Nichts fiel.
Der Wind zerrte an ihrer Kleidung, ihren Haaren. Farben verschwammen zu undeutlichen Schatten, als Malia sich in der Luft überschlug und die Orientierung verlor. Verdammte Scheiße! Ich bringe ihn um, wenn ich das überlebe!
Ihr Rücken juckte unerträglich. Die Flügel schienen ein Eigenleben entwickelt zu haben und wollten endlich ausgebreitet werden, den Wind zwischen den Federn spüren. Der Waldboden rückte unaufhaltsam näher und Malia erfüllte ihnen den Wunsch nur zu gerne.
Die Schwingen glitten auseinander und sofort stoppte der Fall ins Leere ruckartig. Ein freudiges Kreischen drang aus Malias Kehle, als sie auf einem Luftstrom über den Wald hinwegglitt. Der warme Wind sorgte für genügend Auftrieb, sodass sie sich ein wenig in die Höhe schrauben konnte. Ihr Magen hob sich erwartungsvoll.
Es war unbeschreiblich. Lebendig, leicht, eine unbändige Intensität, ein Gefühl vollkommener Freiheit.
Das. Das ist es!
Ihr Lachen wurde weggetragen, als sie probeweiser die neuen Muskeln auf ihrem Rücken anspannte. Ein Flügelschlagen später drehte sich Malia um die eigene Achse. Höher.
Sie schloss die Augen und schlug mit den Flügeln, zischte an den Klippen vorbei hinauf in die unendlichen Weiten des Himmels.
Als etwas Kaltes Malias Wange streifte, öffnete sie ihre Augen wieder. Von oben sah alles so klein aus, so unbedeutend. Grüne Flecken, weite Wiesen die sogar in dieser Höhe erkennen ließen, welche Farbenpracht sie bargen.
Ihr Atem bildete kleine Wölkchen vor ihrem Mund. Das Blut und Adrenalin rauschten in ihren Adern, sie fühlte sich trunken.
Dannentspannte Malia jeden Muskel, zog die Schwingen schützend um ihrenverletzlichen Körper. Und ließ sich fallen.
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Gefangen
FantasyWas würdest du tun, wenn deine Träume plötzlich zum Leben erwachen? Wenn du nicht alleine mit deinen Gedanken bist, an einem Ort weit weg von jeglicher Wirklichkeit, und doch in der Realität? Malia will eigentlich nur eines, als sie in einen Autounf...