Kapitel 14

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Salzige Luft schlug Malia entgegen, der Sand knirschte leise unter ihren Sohlen.

»Es muss wunderbar sein, immer und überall hingehen zu können, wo man will.«

Morpheus trat neben sie und steckte seine Hände in die Hosentasche. Er sah auf die endlose Weite des Horizontes hinaus, die sich hinter dem azurblauen Meer erstreckte.

»Irgendwann hat man alles gesehen.« Resignation sprach aus seiner Stimme. Er sah sie an »Es ist nicht das wahre Leben. Es ist nur eine Illusion, manipulierbar und im Endeffekt immer das, was man sehen möchte. Nicht, was man sehen oder fühlen muss

Sie streifte die Schuhe ab und vergrub die Zehen im feuchten Sand, der die Farbe von dunklem Honig hatte.

»Dann ist es eben eine Illusion. Aber dafür eine wunderschöne.« Bevor Malia sich dem seltsamen Gesichtsausdruck hingeben konnte, der auf Morpheus Gesicht trat, setzte sie sich in Bewegung, ging über den menschenleeren Strand. Das Salzwasser brach sich in meterhohen Wellen nahe am Strand und spritzte ihr ins Gesicht. Es war ihr egal. Sie begrüßte es sogar.

Malia stülpte die Hose nach oben, bevor sie ein Stück ins Wasser watete, bis es ihre Waden umströmte. Sie sah riesige, dunkle Schatten weiter draußen unter der unruhigen Oberfläche und erschauderte. Welche Wesen wohl dort unten lebten?

Malia schloss die Augen und breitete die Arme aus. Der Wind peitschte ihre Haare umher und ihre Lungen füllten sich mit Freiheit. Endlose Möglichkeiten. Wie kann man so etwas nicht jede Sekunde ausnützen?

Erst als ihre Zehen fast blau wurden und die Sonne als ein roter Feuerball den blauen Rand des Meeres küsste, drehte sie sich wieder um.

Morpheus saß im Sand, den er langsam durch seine Finger gleiten ließ. Korn für Korn. Nachdenklich hatte Malia ihn noch nie erlebt. Er wirkte ein wenig deplatziert, ein wenig verloren an dem weiten Strand.

Ein Stich fuhr durch ihre Brust. Du weißt nichts über ihn.

Malia biss sich auf die Lippe und schlenderte schließlich langsam zu ihm zurück.

Still setzte sie sich neben ihn, bewahrte dennoch Abstand.

»Danke.«

Erst jetzt drehte er den Kopf. »Wofür?«

»Für das hier.«

Weiterer Sand gesellte sich zu dem kleinen Haufen zwischen seinen Beinen. Schweigen.

»Darf ich dir etwas verraten?«

»Natürlich.« Malia fuhr die Konturen einer Muschel nach, die sie gefunden hatte. Das Rot der Sonne spiegelte sich in seinen Augen wieder, als er sie ansah.

»Das erste Mal seit langer Zeit weiß ich wieder, was es bedeutet, am Leben zu sein.« Malia schluckte.

»War es so schrecklich, die letzten Jahre?« Malia erinnerte sich selbst an ihre letzten Jahre und wie schwer es für sie gewesen war, bevor sie durch das Licht gegangen war. Morpheus lachte trocken auf.

»Ja. Ja, das war es. Jeden Tag dasselbe, dieselbe Hölle, dieselben Menschen, dasselbe Land. Ich bin stumpf, empfinde nichts bis auf das, was ich den Menschen wegnehme. Ich sehne mich nach dem Leben, Malia. Ich sehne mich danach, endlich wieder etwas zu fühlen.«

»Warum machst du es dann nicht einfach?« Ein bitteres Lächeln folgte.

»Weil es nicht möglich ist.«

»Willst du mir verraten, warum?« Sie sah zu, wie sich sein Brustkorb hob und senkte. Noch vor einem Tag hätte Malia sich nie im Leben erträumen lassen können, hier zu sitzen und mit Morpheus über etwas so Banales wie Gefühle zu sprechen. Am allerletzten mit Morpheus, der bei ihrer ersten Begegnung so kalt war, dass sie befürchtet hatte, sie könnte Frostbeulen davontragen, als er sie berührt hatte.

GefangenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt