Kapitel 22

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Mit jedem Schritt durch die gewundenen Gänge, von denen keiner dem vorherigen glich, löste sich ein Stück des Albtraumes auf, der schwer wie ein Damoklesschwert über ihrem Kopf hing. Malia versuchte nicht einmal, ihre Finger aus den seinen zu lösen.

Sein Besitzanspruch an ihr hätte sie beunruhigen sollen. Hätte hätte Fahrradkette.

Morpheus ging neben Malia her, mit geradem Kopf und zielsicheren Schritten. Er führte sie über Treppen und verstecken Abkürzungen, bis sie so tief unter der Erde waren, dass Malia fröstelte.

Weichster Kaschmir legte sich um ihre Schultern. »Danke.«, murmelte sie widerwillig und zog den himmlischen Stoff der Jacke enger um sich.

»Gern geschehen, meine Liebe.« Ein selbstgefälliges Lächeln.

Der Teppichboden wich nacktem Stein. Schlagartig hatte sich die Stimmung verändert. Alles strahlte förmlich Ablehnung aus, ihre Sinne schrien ihr zu, sie solle sich umdrehen und weglaufen. Aber Morpheus Hand verhinderte dies erfolgreich.

»Keine Sorge, das ist gleich vorbei.«, murmelte er und ließ sie los. Am Ende des Ganges war eine Tür. Schlichtes Metall, ein wenig rostig an den Scharnieren.

Mit den Fingerspitzen fuhr er über die kalte Oberfläche und dort, wo seine Finger das Metall berührten glühten helle Linien und Symbole auf. Malia sah zu, wie die Türe aufschwang, die breiter war als sie breit, und erhaschte einen Blick auf einen weiteren, tintenschwarzen Raum.

»Nach dir.«, murmelte Morpheus dicht und Malia zog zweifelnd die Augenbrauen hoch.

Mit seinen brennenden Blicken im Rücken trat sie schließlich doch ein. Sie war keine zwei Meter gegangen, da blieb sie auch schon wieder stehen.

»Heilige Scheiße.« Malia legte den Kopf in den Nacken.

Morpheus klatschte einmal in die Hände und alles wurde in leichtes Dämmerlicht getaucht. Unzählige Regale, jedes so breit wie Malia lang war, reihten sich nebeneinander in beide Richtungen. Und in jeder Reihe lagen reihenweise zerbrechliche Glaskugeln, die in den schillernden Farben von Seifenblasen glänzten. Jede einzelne war auf einem weichen, kleinen Kissen gebettet und sorgfältig mit einem kleinen Kärtchen beschriftet.

Noah McDough, 1989

Noah McDough, 1978

Noah McDough, 2009

»Wow, ich wusste nicht, wie viele Noah McDough's es auf der Welt gibt.« Sie schritt weiter das schier endlose Regal entlang, die mit den Träumen unzähliger Menschen gefüllt waren, alle mit dem Nachnamen McDough. Jede Kugel schimmerte auf ihre eigene Weise, als würde etwas unter ihrer Oberfläche nur darauf warten, dass man sie zerbrach und es freiließ.

»Was ist das?«, fragte sie und griff nach einer pechschwarzen Seifenblase. Morpheus fing ihre Hand noch in der Luft ab, bevor sie es berühren konnte.

»Nicht. Das sind Albträume, die willst du nicht sehen.«

»Was darf ich dann sehen?«

»Hier entlang.« Er nahm sie am Ellenbogen und dirigierte sie weiter durch den Saal, der keine Decke und Wände hatte. Nur Dunkelheit lag außerhalb des warmen Scheines der Lampen, die wie blasse Ballons sanft in der Luft herumschwebten.

Schatten verkrochen sich zwischen den Brettern, als sie an ihnen vorbeigingen.

Die Regale standen in immer näheren Abständen, bis es den Anschein hatte, als würden sie in der Mitte einer riesigen Bibliothek stehen. Eine Bibliothek der Träume.

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