KAPITEL 5 - Rückkehr der Erinnerungen

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[Old Queen Street, Westminster, England, 27. Juni 2013, 07:31]
Amy stand auf dem Schwindel erregenden Geländer eines Hochhauses. Es war so kalt, dass sie ihren Atem vor sich sehen konnte. Fröstelnd rieb die Rothaarige sich mit den Händen die Arme entlang, während sie sich irritiert umsah. Wo war sie? Dieser seltsame Ort erweckte ein ungutes Gefühl in ihr...
Plötzlich entdeckte Amy etwas, dass ihr Herzschlag für einen Moment aussetzen ließ: Rory befand sich nur ein paar Meter neben ihr, er starrte bangend auf den Abgrund vor ihnen. Sein Blick fiel auf Amy und er lächelte voller Wehmut. In seinen Augen schimmerte etwas, das sie völlig beunruhigte. Was war hier eigentlich los?
"Rory?", fragte sie zögernd und streckte die Hand nach ihm aus.
Er schien fast weinen zu müssen. "Es tut mir leid, dass ich das tun muss", flüsterte ihr Mann erstickt, und sein trauriger Tonfall durchbohrte Amys Herz wie ein eiserner Pfeil, "Aber vergiss nie, dass ich dich über alles liebe, ja? Ich liebe dich!"
Rorys Worte hatten sehr nach einem Abschied geklungen.
Gequält zitternd wandte er sich ab von ihr. Amy wagte, trotz der immensen Höhe des Gebäudes, einen wackeligen Schritt nach vorne zu Rory. Was war los mit ihm? Was hatte er vor?
Ihr Mann verlor den Halt und ließ sich nach vorne fallen. Entsetzt griff Amy nach seinem Arm. "Nein!", schrie sie panisch und versuchte, ihn zurück zu ziehen, doch er war zu schwer und glitt ihr durch die Finger. "Rory!!"
Verzweifelt schaute Amy dabei zu, wie ihr Mann vom meterhohen Wolkenkratzer in die Tiefe stürzte. Ohne darüber nachzudenken, setzte sie auch zum Sprung an. Egal, ob die Rothaarige es überleben würde, sie musste ihm einfach nach!
Plötzlich packte eine Hand ihre Schulter und zog sie mit geballter Kraft zurück. "Amy!", rief die männliche Stimme hinter ihr, die offenbar verhindern wollte, dass sie sprang, "Amy, nein!"

Keuchend öffnete Amy die Augen: Sie lag auf ihrem Bett, ihren Kopf seitlich auf ihr Kissen gelegt, ihre Beine hatten die Decke auf den Boden geworfen.
Sie hatte nur geträumt. Schon wieder.
Erleichtert aufatmend wischte Amy sich mit einer Hand über die Stirn: Kalter Schweiß rann ihr an den Schläfen hinab. So einen heftigen Traum hatte sie noch nie gehabt...
Dann fiel ihr wieder ein, wovon sie geträumt hatte, und setzte sich mit einer schnellen Bewegung auf.
Wo war Rory?!
Er wird sich kaum wirklich von einem Gebäude geworfen haben- doch trotzdem hegte sie die Furcht, dass ihrem Gatten etwas zugestoßen sein könnte, denn er lag nicht neben ihr im Bett, wo er gestern Abend nach ihrem Hochzeitstag eingeschlafen war.
Hastig rappelte Amy sich auf, schlüpfte in ihre Hausschuhe und ging aus ihrem Schlafzimmer ins Wohnzimmer: Kein Rory.
Da hörte sie ein Summen aus der Richtung, wo sich die Küche befand. Mit eiligen Schritten bewegte Amy sich zu besagter Küche, und seufzte erleichtert, als sie sah, wie ihr Gatte mit dem Rücken zu ihr vor dem Küchentresen stand und gerade zufrieden eine Scheibe Toastbrot mit roter Marmelade bestrich, die Zeilen von "Macarena" leise nachsingend.
Ihr fiel ein unendlich großer Stein vom Herzen. Amy schritt zu ihm und sie umarmte ihren Mann überschwänglich von hinten. Es ging ihm gut! Er war unverletzt!
"Oh!", hörte sie ihn überrascht rufen, "Guten Morgen, Schatz."
Amy vergrub ihr Gesicht in seinem aquamarinblaues Pyjamahemd. "Versprich mir, dass du nie von einem Wolkenkratzer hinunter spingst, auch, wenn du es für mich tust", nuschelte sie bittend und schloss die Augen.
Sie konnte förmlich den Ausdruck von Verwirrung auf dem Gesicht ihres Mannes spüren. "Okay", meinte er dann vorsichtig, "Was ist passiert?"
Nachdem Amy sich von Rory gelöst hatte, setzte sie sich auf einen Sessel und berichtete ihm ausführlich von ihrem Alptraum. Er hörte ihr aufmerksam zu, und als Amy zur furchtbarsten Stelle ihres Traumes kam, weiteten sich seine Augen vor Schreck und sein Mund war leicht geöffnet.
"Und das alles hast du wirklich geträumt?", fragte er ungläubig.
Amy nickte bedrückt. "Ja. Die Stimme, die mich davon abhalten wollte, zu springen, kam mir so vertraut vor, als würde ich sie schon ewig kennen. Doch das Schlimmste an diesem Traum war, dass ich dachte, ich hätte dich-"
Amy brach ab- diesen Satz brachte sie einfach nicht heraus, denn es war eine viel zu grausame Vorstellung. Sie atmete bebend ein, um nicht gleich weinend vor ihrem Mann zusammenzubrechen.
Rory blinzelte mitfühlend und nahm seine Frau tröstend in den Arm. Amy schlang ihre Arme um ihn und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Ein paar Tränen bahnten sich ihren Weg über ihre Wangen, doch diesmal wischte sie sie nicht gleich weg. Amy dankte Gott dafür, dass es Rory gut ging, denn sie wüsste nicht, wie sie ohne ihn leben sollte...
Nach der Umarmung setzte er sich vor ihr hin und strich ihr eine ihrer zerzausten Haarsträhnen hinter ihr Ohr, eine ernste Miene aufgesetzt. "Ich werde mich heute im Krankenhaus über diese Sache informieren- ich weiß, diese Träume hattest du schon seit deiner Kindheit, aber wenn sie dir Angst machen, dann will ich das irgendwie verhindern!"
Amy lächelte liebevoll. Rory tat wirklich alles, damit es ihr gut ging- das würde nicht jeder Mensch für einen Anderen machen, und die Rothaarige empfand dies auch nicht als selbstverständlich. Sie konnte endlich mit ihm frei über ihre schwierige Angelegenheit sprechen, ohne Angst zu haben, dass er es nicht verstehen würde.
Amy nahm seine Hand. "Weißt du eigentlich, wie dankbar ich dir bin? Dafür, dass du mir mit dieser Sache hilfst."
Rory lächelte schmal und beugte sich zu ihr nach vorne, seine Finger verhakten sich mit ihren.
"Du musst mir nicht danken. Niemand soll den Schlaf meiner geliebten Frau stören!"
Rory gab ihr einen Schmatzer auf die Wange. Amy lachte laut, der größte Kummer war verweht. "Wenn das so ist, kann ich heute Nacht wieder beruhigt zu Bett gehen, mein edler Ritter."
Sie fühlte sich wieder um ein Vielfaches befreiter. Nur Rory schaffte es, die Rothaarige so aufzuheitern.
Ihr Magen knurrte plötzlich laut. Überrascht lachend legte Amy die Arme um ihren Bauch.
"Hast du Hunger?", fragte Rory und schob den Teller mit den Marmeladen-Toast-Scheiben zu ihr, "Iss lieber etwas, du bist ja noch völlig durch den Wind!"
Amy nickte und wollte zum Brot greifen, doch ihr Mann kam ihr zuvor. "Warte", meinte er plötzlich, nahm eine Scheibe in die Hand und führte diese langsam zu ihrem Mund.
Herzhaft biss Amy hinein. Es schmeckte fabelhaft, nach süßer Erdbeer-Marmelade und frischem Toastbrot. "Mmmmh", machte sie dabei und sah ihren Mann an, der sich ein Lachen nicht verkneifen konnte.
Kauend nahm sie die andere Scheibe Toast in die Hand und ließ Rory ein Stück davon essen. Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, als schmeckte dieser Toast nach dem Himmel auf Erden.
Amy prustete los. Ihr Mann konnte so lustig sein...
Plötzlich klingelte es an der Tür.
Nanu?, dachte die Rothaarige verwundert, Wer könnte das sein, um diese Uhrzeit? Der Briefträger kommt doch sonst immer nur dienstags...
"Ich geh' schon", meinte Rory, stand auf und verließ die Küche.
Verträumt schaute Amy ihm nach. Um sich die Zeit zu vertreiben, griff Amy nach ihrem Handy, das wie gewohnt auf dem Küchentresen lag. Sie hatte sich schon gestern im Café vorgenommen, ihre Freundin Mels anzurufen, doch sie hatte nicht den richtigen Augenblick gefunden, um dies zu tun.
Aus ihren Kontankten suchte sich die Rothaarige Mels' Nummer heraus und tippte auf Anrufen. Hoffnungsvoll hielt sie ihr Handy ans Ohr und wartete ungeduldig, bis es klingelte...
"Hier ist die Mailbox von Mels- Ich kann nicht 'rangehen, deshalb hinterlass' mir eine Nachricht, Süßer!"
Das Handy gab einen kurzes Piepsen von sich. Amy seufzte tief und sprach: "Hi, Mels. Ich bin's, Amy. Wie geht's dir? Ich hab' lange nichts mehr von dir gehört. Was machst du so? Ruf mich mal an! Liebe Grüße von Rory."
Enttäuscht legte sie das Handy auf den Tresen zurück. Wie oft hatte sie schon versucht, Mels anzurufen, ohne Erfolg? Bestimmt hatte sie wieder etwas angestellt- ein Auto gestohlen, oder sich mit Anderen angelegt. Ein besorgtes Gefühl kam in ihr hoch. Es war, als würde sich ein versteckter Instinkt in ihrer Seele einschalten, immer, wenn sie an Mels dachte...
"Amy", rief Rory plötzlich, "Schau mal, wer da ist!"
Neugierig drehte sich Amy um. Ihr Mann betrat das Wohnzimmer, doch er war nicht alleine: Hinter ihm kamen eine zierliche, etwa 50-jährige Frau mit kinnlangem, dunkelblonden Haar, die ein knielanges, karminrotes Freizeitkleid mit Ärmeln, die bis zu den Ellenbogen reichten, trug, in den Raum. Neben ihr ging ein etwas dickerer, kauziger Mann mit einer Halbglatze, einem einfachem, ultramarinblauen Anzug und strahlenden, braunen Augen.
Amy entfuhr ein überraschter, erfreuter Schreilaut. "Mum! Dad!"
Sie sprang vom Stuhl auf und lief zu ihren Eltern, die die Rothaarige mit einer innigen Umarmung begrüßten.
"Amy!", lachte ihr Vater und legte seine Arme um Amys Rücken.
Ihre Mutter gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Mein Schätzchen", lächelte sie glücklich, "Wir haben dich so vermisst!"
Tabetha und Augustus Pond waren Amys Eltern. Sie lebten eigentlich in Leadworth- ein kleines, ruhiges Örtchen mitten in England, indem Amy und Rory ihr halbes Leben verbracht hatten. Wegen ihren Arbeiten wohnten die beiden zwar in Westminster, aber alle paar Monate besuchten sie die alte Heimat für einige Nächte.
Nach einer langen Umarmung lösten sich die drei Ponds voneinander und Amy blickte von einem Elternteil zum anderen. "Was macht ihr denn hier?", fragte sie überrascht.
Augustus zuckte mit den Schultern, ein breites Lächeln in seinem runden Gesicht. "Wir dachten uns, wir besuchen unsere Tochter und ihren Gemahl in ihren vier Wänden", meinte er und schaute sich interessiert in der Küche um, die braunen Augen musterten prüfend jeden Zentimeter. "Schön gemütlich habt ihr es hier", stellte er fest und nickte.
Amy entfuhr ein Lachen. Ihr Vater besaß die Gabe, in allem und jedem das Positive zu sehen. Das machte ihn stets zu einem angenehmen, frommen Gesellen.
Tabetha indessen lächelte ihre Tochter entschuldigend an und streichelte Amy über ihr zerzaustes Haar. "Falls wir ungelegen kommen, tut uns das leid. Dein Vater hat auf einen Überraschungsbesuch bestanden."
Nach ihrem letzten Satz warf Tabetha einen Schuld zuweisenden Blick auf ihren Mann. Augustus, der die Miene seiner Frau bemerkte, runzelte die Stirn. "Du hattest bei der Hinfahrt nichts dagegen einzuwenden gehabt, Schatz", verteidigte er sich charmant, was Amy wieder zum Lachen brachte.
"Ihr stört doch nicht", erwiderte die Rothaarige und sah hinüber zu Rory, der am Küchentresen stand. "Stimmt's?"
Ihr Mann nickte und trat neben Amy. "Natürlich nicht. Meine Schicht im Krankenhaus beginnt erst in drei Stunden- soll ich euch einen Kaffee machen?"
Er deutete auf die Kaffeemaschine hinter ihm.
Tabetha nickte dankbar. "Oh ja, das wäre sehr nett, danke, Rory!"
Rory sagte nur "Kein Problem" und ging nach hinten, um Keramiktassen aus dem Küchenschrank zu holen.
"Für mich bitte einen Espresso mit viel Milchschaum und einem Zuckerstück!", rief Augustus ihm hinterher.
Amy lachte abermals und umarmte nochmal ihre Eltern. Sie fühlte sich so geborgen in ihrem Armen. Es war, als wäre ein frischer Wind ihres alten Zuhauses in ihren freien Tag geweht.

⏳} TIMELESS ADVENTURES - The Chronicles Of The 11th Doctor {⌛Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt