KAPITEL 2 - Seltsame Begegnung

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[John Harper Street, Colchester, England, 7. Juli 2013, 11:23]
Ächzend raste Craig die Straße hinab, die noch länger als sonst wirkte. Jetzt wusste er wieder, warum er sich vor einiger Zeit vorgenommen hatte, mehr Sport zu treiben. Er war viel zu spät dran!
Denn in genau einer Minute und 18 Sekunden endete der Unterricht in Alfies Schule, und heute war doch dessen letzter Schultag vor den Sommerferien!
Sein inzwischen 8-jähriger Sohn Alfred war der ganze Stolz von ihm und seiner geliebten Frau Sophie. Craig und sie hatten sich schon voll und ganz in ihrer Rolle als Eltern eingelebt.
Obwohl Sophie natürlich garnicht beeindruckt wäre, wenn er sich zu Alfies letztem Schultag verspäten würde... Hätte er sich nicht so entspannt diesen Kaffee im Callcenter gegönnt!
Craig hastete unbeirrt weiter, trotz der sengenden Sommerhitze und seiner schweren Arbeitstasche, die ihn hinunterzog, bis er nach der nächsten Kurve die John Harper Street erreichte. Endlich!
"Fast... Geschafft...", schnaufte Craig atemlos, und raste mit letzter Kraft zum Schulgelände.
Die North Primary School machte mit ihrer rotbraunen Backsteinfassade und den turmähnlichen Spitzen einen mittelalterlichen Eindruck, aber sie war wahrhaftig eine der renommiertesten Grundschulen in ganz Colchester.
Vor dem Eingang hatten sich schon ein paar Erwachsene versammelt, um ihre Kinder abzuholen. Eine Person erkannte Craig sofort. "Ed!", schnaufte er atemlos, und blieb vor ihm stehen, um nach Luft zu schnappen.
Ed -eigentlich Edward -Higgins war seit einigen Jahren mir Craig befreundet, er gehörte auch zu seinen Fußballkumpels. Sein Sohn Justin und Alfie besuchten die gleiche Klasse.
"Craig!", rief der Afroamerikaner überrascht aus, "Na, wie geht's, altes Haus?"
Er gab Craig einen freundschaftlichen Klopfer auf die Schulter.
"Uff, gut, und dir?"
"Auch... Aber, sag mal, warum bist du eigentlich so im Stress?"
"Ich hab' wieder einmal die Zeit vergessen", gab er erschöpft zurück, und warf einen flüchtigen Blick auf seine graue Armbanduhr. Fünf Minuten vor halb zwölf.
Augenblick- fünf Minuten vor halb zwölf?!
"Oh, mann." Craig legte langsam seinen Kopf in den Nacken, die Hände auf beiden Wangen. "Ich hatte wohl nicht richtig auf die Uhr geguckt..."
Er hatte sich wohl völlig umsonst beeilt.
Ed lachte indessen. "Hattest gedacht, du wärst spät dran, was? Keine Sorge, Alter, die Kids sitzen sicher noch da drinnen und freuen sich über ihre Noten."
Craig ließ die Hände wieder fallen. "Und ich hab' mich schon gefragt, warum du so entspannt aussiehst..."
Ed lachte noch einmal, und nahm einen Schluck von dem To-Go-Kaffee, den er in der Hand hielt.
Nachdem sich Craig beruhigt hatte, fingen beide an, sich zu unterhalten. Er war heilfroh, dass sein Freund hier stand und mit ihm plauderte, denn sein Herz klopfte noch wie verrückt von dem Lauf, den er sich gerade geleistet hatte. Ed war der lockerste Typ, den Craig je in seinem Leben getroffen hatte.
"Eigentlich hätte ich ja den Rekord als "Schnellster Dad der Welt" brechen können, wäre ich noch schneller gerannt", scherzte Craig.
Ed grinste. "Haha, genau. Das mag ich an euch Briten am meisten, denke ich: Euren unbezahlbaren Sinn für Humor."
Das Läuten der Schulglocke erklang. Craig schaute zum Eingang: Die Kinder liefen mit ihren Schultaschen und Zeugnissen hinaus, einige hüpften sofort zu ihren Eltern, die ebenfalls vor dem Gebäude warteten, andere rannten Richtung Bushaltestelle, um den nächsten Schulbus zu erwischen.
Aus dem Gewimmel entdeckte Craig auf den ersten Blick seinen Sohn: Einen brünetten Jungen mit strahlend blauen Augen, einem weiß-blau gestreiftem T-Shirt, einer kurzen, hellbraunen Hose und schwarzen Sandalen. Als er seinen Vater sah, strahlte er übers ganze Gesicht.
"

Dad!", rief der Junge überglücklich und stürmte auf Craig zu, der ihn mit einer innigen Umarmung begrüßte.
"Alfie!" Er wirbelte den Jungen einmal durch die Luft, die Arme um seinen Rücken geschlungen. Danach ließ er ihn wieder runter.
"Und?", fragte Craig neugierig, als Alfie wieder mit beiden Beinen auf dem Boden war. "Wie ist es gelaufen? Wie war dein Tag?"
"Es war total lustig", erzählte er ausgelassen, "Es gab Eis für alle, wir haben Fußball gespielt, und- Oh, guck mal-"
Alfie hielt ihm den weißen Zettel, den er in der Hand hatte, vor, und Craig nahm diesen entgegen.
"Alles Einsen", erklärte sein Sohn mit einem Grinsen, wobei man sehr gut seine Zahnlücke sehen konnte.
Craig war beeindruckt. Auf dem Zeugnis zeigten sich tatsächlich nur gute Zensuren.
"Wow, Alfie, das ist ja fantastisch! Gut gemacht, Kumpel!"
Er beugte sich hinab und klatschte in Alfies hochgehaltene Hand.
Der Junge erfüllte Craig mit großem Stolz- und zwar nicht nur wegen seinen tollen Noten, sondern auch, weil er ein gutes Herz hatte und eine echte Frohnatur war.
"Glaubst du, Mum wird es auch gefallen?", fragte Alfie neugierig.
"Klar! Sie wird es lieben!" Craig nahm seinem Sohn vorsichtig die (glücklicherweise) ziemlich leichte Schultasche ab. "Und zur Feier des Tages trage ich die hier."
Der Junge lachte. "Danke! Du siehst ein bisschen verschwitzt aus. Bist du gerannt?"
"Oh, ach, das..." Craig sah hinunter auf sein meerblaues T-Shirt, entdeckte dabei einige Schweißflecken. "Ja, ich dachte, ich wäre spät dran. War ich aber nicht."
Er zwinkerte verwegen, sein Sohn gluckste übermütig. "Zum Glück! Justin hat auch nur Einsen bekommen!"
"Das ist super", meinte Craig und warf einen Blick auf Ed, der gerade seinen Sohn Justin glücklich auf den Arm nahm, nachdem er dessen Zeugnis gelesen hatte. Als er seinen Freund sah, winkte er ihm zu. Craig winkte zurück.
"So, Kumpel", sprach er nun zu Alfie, "Gehen wir nach Hause? Ich hab' gehört, Mum macht heute Spaghetti."
Alfies Gesichtzüge entglitten vor Freude und er rief: "Ja, ab nach Hause! Zu Mum und zu unseren Spaghetti!"
Craig lachte froh, dann machten sie sich auf den Weg.
Die John Harper Street hinab spazierend, redeten Vater und Sohn über die Arbeit und die Schule, was sie in den Sommerferien machen wollten und natürlich auch über die Spaghetti Bolognese, die Sophie bestimmt in diesem Moment Zuhause für sie zubereitete.
"Ich hoffe, Mum macht sie mit ganz viel Parmesan-Käse", sagte Alfie mit hungrigem Gesichtsausdruck.
"Das hoffe ich auch", grinste Craig, und dachte so stark an einen Teller mit herrlich riechenden Spaghetti Bolognese darauf, dass sein Magen anfing, zu knurren.
Hunger muss wohl ansteckend sein, dachte er schmunzelnd und wollte seinen Sohn gerade fragen, auf welchen Nachtisch er Lust hätte, als er plötzlich mit jemandem zusammenstieß. Ruckartig zuckte Craig zurück und blinzelte, um zu erkennen, wer ihm hineingerannt war: Er konnte bloß erkennen, dass es eine Frau mit lockigem, blondem Haar war, die offenbar genauso im Stress war wie Craig vor ein paar Minuten. "Entschuldigung", keuchte die Frau und lief weiter, Richtung Alfies Schule.
"Kein Problem", erwiderte Craig nur, doch dies schien sie offenbar nicht mehr zu hören. Er drehte sich verwirrt um und versuchte, einen Blick auf die Frau zu erhaschen, aber sie war bereits unter der Menschenmenge hinter ihnen verschwunden.
Irgendetwas an ihr machte Craig stutzig. Wollte sie ihr Kind von der Schule abholen und hatte sich verspätet? Die Frau hatte allerdings eher erschöpft als gestresst geklungen, und sie war sehr schnell gelaufen, als würde sie vor etwas davonrennen...
"Dad?", fragte Alfie plötzlich, "Alles okay?"
Craig sah hinab auf seinen Sohn, der ihn mit besorgter Miene anschaute.
"Ja, keine Sorge, Sportsfreund. Es ist alles in Ordnung", beruhigte er Alfie und wuschelte ihn mit einer Hand durch sein Haar, was den Jungen wieder zum Lachen brachte.
Das letzte, das Craig wollte, war, dass sein Sohn sich Sorgen um ihn machte. Deshalb beschloss er, trotz des unbehaglichem Gefühls in seinem Bauch wegen der rennenden Frau, seine Gedanken beiseite zu Schieben, um Alfies Freude auf die Sommerferien nicht zu verderben.
Eine hohe Mädchenstimme riss ihn aus seinen Überlegungen. "Alfie!"
Craig blickte wieder nach vorne: Ein kleines, zierliches Mädchen mit Zöpfen, dunklen Haaren und grünen Augen sprang auf seinen Sohn zu. Sie trug ein weißes Sommerkleid mit bunten Schmetterlingen darauf, dazu pfirsichfarbene Ballerinas mit glitzernden Strasssteinchen. Auf ihrem Rücken trug sie einen rosaroten Rucksack.
"Stephanie!", gab Alfie überrascht von sich, als das Mädchen ihn mit einer wilden Umarmung begrüßte.
Interessiert beobachtete Craig seinen Jungen: Bildete er sich das nur ein, oder waren seine Wangen beim Anblick dieses Mädchens leicht errötet?
"Ich fahr' mit meinen Eltern heute nach Glasgow", erklärte Stephanie aufgeregt, "Und deshalb wollte ich mich noch von dir verabschieden!"
"O-Okay", stotterte Alfie verlegen, "D-Dann wünsch' ich dir viel Spaß in Afrika."
"Danke!", erwiderte das Mädchen und löste sich von Alfie, "Wir sehen uns dann in zwei Monaten!"
Dann hüpfte Stephanie ausgelassen zum Schulbus, drehte sich allerdings nochmal um, um Alfie zuzuwinken, der ihr verträumt nachschaute.
Craigs Lippen verzogen sich zu einem vielsagendem Lächeln. "Du weißt schon, dass Glasgow eigentlich in Schottland liegt?"
Alfie nickte, immer noch Stephanie hinterher blickend. "Ja..."
Aus Craigs Lächeln wurde ein Grinsen.
"Diese Stephanie ist ja wirklich nett", bemerkte er unauffällig.
"Mehr als nur nett", flüsterte Alfie, doch als er die Miene im Gesicht seines Vaters sah, korrigierte er sich schnell. "Öhm, ich meinte, sie ist nett. Ja, das meinte ich so. Nur nett."
"Nur nett", wiederholte Craig leicht nickend.
Das erinnerte ihn daran, wie lange er damals in seine Frau verliebt war und wie lange er gebraucht hatte, bis er ihr in einer höchst außergewöhnlichen Situation seine Gefühle gestehen konnte.
Hoffentlich lässt sich Alfie nicht so viel Zeit damit, dachte Craig. Wie ähnlich sein Sohn ihm doch war...
"Entschuldigen Sie bitte", erklang auf einmal eine weibliche Stimme in seiner Nähe.
Craig sah auf: Nur wenige Meter vor ihm ging eine etwa vierzig- bis fünfzigjährige Frau auf ihn zu. Ihr nougatbraunes, gepflegtes und leicht ergrautes Haar fiel auf ihre Schultern und ein fransiger Pony bedeckte ihre Stirn. Sie trug eine schwarze Sonnenbrille, die es unmöglich machte, einen Blick auf ihre Augen zu werfen, und ein dunkles Buisnessfrauen-Outfit- bestehend aus einem schwarzen Blazer, einer weißen Bluse, einer schwarzen Hose und schwarzen High Heels- das viel zu warm für diese Jahreszeit aussah. Obwohl ihr Tonfall freundlich war, machte die Frau einen leicht einschüchternden Eindruck.
"Kann ich Ihnen helfen?", fragte Craig sie höflich.
"Ja, ich suche eine Kollegin von mir", erklärte sie, dabei machte sie vor dem Wort 'Kollegin' eine kleine Pause, "Sie ist wahrscheinlich an dieser Straße vorbeigekommen. Haben Sie sie zufällig gesehen?"
"Könnte sein", meinte Craig, der viele Leute in Colchester kannte, "Wie sieht sie denn aus?"
"Sie ist ein wenig kleiner als ich", beschrieb die Frau äußerst detailliert, als würde sie diese Person schon länger kennen, "Sie hat auffällige blonde Locken, hellblaue Augen-"
"Oh!" Dann musste das die Frau sein, die vorhin mit ihm zusammengestoßen war! "Ja, ich hab' sie gerade in diese Richtung rennen sehen." Er deutete mit der Hand zum Schulgebäude. "Sie hatte es sehr eilig."
"Oh, vielen Dank", erwiderte die Frau und schien froh zu sein, "Sie helfen mir wirklich sehr damit."
"Gern geschehen", entgegnete Craig bescheiden, doch bevor die Fremde an ihm vorbei gehen wollte, gab es noch etwas, das er loswerden möchte.
"Augenblick!"
Die Frau drehte sich zu ihm um. "Ja?"
"Darf ich fragen", begann er zögernd, "Warum ihre Kollegin so schnell gerannt ist? Sie sah für mich ein wenig... verängstigt aus."
Ihre Gesichtszüge frierten ein, als Craig die Frage vollendet hatte. Dann erklärte sie mit kühler, abweisender Stimme: "Sie kennt sich in der Stadt noch nicht so gut aus und dachte, ich würde mich in dieser Straße mit ihr treffen, doch das war ein kleines Missverständnis. Nichts allzu Schlimmes."
Er nickte langsam. Obwohl er der Antwort der Frau nicht ganz glaubte, traute er sich nicht, sie weiter auszufragen. "Okay, danke. Schönen Tag noch!"
"Ihnen auch", rief sie, mit einem leicht erzwungenem Lächeln, dann wandte sie sich eilig ab und stöckelte in größeren Schritten zur Grundschule.
Etwas an dieser Situation kam Craig sehr seltsam vor. Und um ehrlich zu sein, die Erklärung der Buisnessdame hatte definitiv nach einer Ausrede geklungen. Und dann noch ihr eisiger Gesichtsausdruck...
"Dad", sagte Alfie plötzlich leise, "Diese Frau hat mir Angst gemacht."
Craig blickte hinab zu seinem Sohn, der sich ein wenig hinter ihn gestellt hatte und schaute mit großen Augen zu ihm auf.
Wieder kämpfte er gegen das Verlangen in sich an, herauszufinden, wovor die blonde Frau weggelaufen war, um Alfie nicht in eine Sache mit hinein zu ziehen, die Craig selbst nicht verstand. Er beugte sich zu ihm herunter.
"Hey, ist schon gut, Kumpel", beruhigte Craig ihn, "Keine Sorge, die tut dir nichts. Denk an Mum, und an unsere Spaghetti!"
Da hellte sich Alfies Gesicht wieder auf. "Genau, auf zu Mum!"
"Auf zu Mum!", jubelte er mit, und so gingen die beiden im Schnellschritt ihren üblichen Weg nach Hause. Doch plötzlich blieb Craig aprupt auf dem Fleck stehen, auf dem er sich gerade befand, denn was er gerade entdeckte, raubte ihm fast den Atem: An der rechten Ecke der John Harper Street stand eine Art Alien im schwarzem Anzug. Der blasse Kopf des Wesens war unnatürlich groß und seine rötlichen, seelenlosen Augen starrten ihn bedrohlich an. An der Stelle, wo eigentlich Mund und Nase sein sollten, saß stattdessen eine Art Schnauze, die merkwürdig nach unten gezogen war. Anstelle von normalen Händen hatte das Wesen drei Finger an jeder Hand, einer war dicker und länger als die Anderen.
Craig erstarrte. Was war das für ein Ding?! Er wusste garnicht, wie er reagieren sollte, ob er überhaupt reagieren sollte, ob er sich schützend vor Alfie werfen sollte, ob das nur ein Kostüm oder ein geschmackloser, dummer Scherz war oder ein waschechtes, lebendiges Alien.
Das Wesen bewegte nur leicht denn Kopf nach rechts, als würde es sagen wollen: "Warum siehst du mich an?"
Das war hundertprozentig ein Außerirdischer!
Seitdem Craig vor einigen Jahren einer ganz besonderen Person begegnet war, und nachdem diese Person ihm und seiner Familie zweimal das Leben gerettet hatte, glaubte er an alles Übermenschliche.
Doch so etwas Gruseliges hatte Craig wirklich noch nie erblickt.
Ein Geräusch erweckte seine Aufmerksamkeit. "Au!"
Er warf den Kopf um und sah, wie Alfie auf den Knien am Gehsteig saß.
Sofort eilte Craig zu ihm. "Alfie!", rief er und half seinem Sohn auf. "Geht's dir gut?"
"Ja", meinte Alfie, "Ich bin nur über einen Stein gestolpert."
Craig atmete erleichtert aus. "Zum Glück." Er kontrollierte noch, ob sich sein Sohn sich auch wirklich nicht verletzt hatte, dann traten sie wieder zufrieden zum Heimweg an.
Craig fühlte, dass er etwas Wichtiges vergessen hatte- er wusste aber irgendwie nicht, an was er sich erinnern musste, denn so sehr er auch darüber nachdachte: Es war ihm einfach entfallen.

⏳} TIMELESS ADVENTURES - The Chronicles Of The 11th Doctor {⌛Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt