KAPITEL 10 - Tutanchamuns Monster

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[West-Theben, Tal der Könige, Luxor, Ägypten, 4. November 1922, 14:51]
Die Höhle schien von Schritt zu Schritt dunkler und düsterer zu werden, doch River spürte keinerlei Angst in sich aufkeimen. Im Gegenteil- das Gefühl, durch die schmalen, ungewissen Tunnel Ägyptens zu streifen, erweckte ein angenehmens, aufgeregtes Kitzeln in ihrem Bauch. Wie sehr hatte sie diese Expeditionen doch vermisst...
River war heilfroh darüber, dass sie eine so gute Freundschaft mit Howard Carter pflegte und somit ins 20. Jahrhundert fliehen konnte- obwohl sie es ein wenig bereute, dass sie ihren haluzinogenen Lippenstift bei ihm einsetzen musste, um ihren Namen in Dr. Alexandra Kingston zu ändern. Der britische Wissenschaftler hatte ein wahrhaftig großes Herz...
Während sie vorsichtig ihre Taschenlampe aus der Umhängetasche zog und diese einschaltete, schaute die Archäologin die Person hinter ihr über die Schulter an: Clara Oswald sah sich mit großen, neugierigen Augen um- wie ein Küken, das sich zum ersten Mal aus seinem Nest wagte. Obwohl River fürchtete, dass die verstaubte Gaslampe zu schwer für die zierliche, brünette Frau sein könnte, musste sie beim Anblick ihrer Faszination fein lächeln. Offenbar hatte der Doctor mit seiner aktuellen Begleiterin bisher noch keine altägyptische Höhle besucht.
Hach, ihr Doctor... Ihr fiel es schwer, die schmerzende, tief in ihrer Seele verborgene Sehnsucht nach ihrem Ehemann zu bändigen. Am liebsten würde River zu ihrem zeitreisenden Gatten rennen, ihre Arme um ihn legen und ihn nie wieder loslassen- dennoch müsste sie ihm die Tatsache erklären, wie sie es aus der Bibliothek geschafft hatte. Doch da die Archäologin jeden in ihrer Nähe mit ihrer bloßen Anwesenheit in höchste Gefahr bringen könnte, musste sie wohl oder übel für geraume Zeit untertauchen. Zudem trug River die Verantwortung für Clara, da sie diese vor den Truppen der Daleks und Cybermen retten musste.
Im Moment allerdings hatten sie die Aufgabe, Howard Carter bei seiner größten Entdeckung zu helfen, die für immer in die Menschheitsgeschichte eingehen würde. Denn wenn jemand es verdient hätte, eine Legende zu werden, dann war es dieser Mann.
"Die Gaslampe scheint nicht mehr auf dem neuesten Stand zu sein", bemerkte River, als sie sah, dass Claras Arm beim Hochhalten des Gegenstandes ein wenig verkrampfte- so eine verrostete Gerätschaft ließ sich schwerer tragen, als man annahm.
Schnell durchwühlte sie ihre Umhängetasche und zog zwei kleine, silberne Taschenlampen hervor, eine der beiden überreichte sie Clara.
"Lassen Sie die Gaslampe einfach stehen, ich werde sie auf dem Rückweg holen", meinte River.
Die Lehrerin nahm das Objekt dankend entgegen und stellte die rostige Lichtquelle neben sich auf den Boden.
River holte auch ihren Kommunikator aus ihrer Tasche, welchen sie mühelos mithilfe eines Passwortes entsperrte und mit vollster Konzentration darauf blickte. Diese Art von Technologie durfte sie auf keinen Fall vor Howard und seinem Team anwenden- sonst würde ihre Tarnung auffliegen und ihr lägen noch ein paar mehr Probleme im Nacken, als sie ohnehin schon hätte.
Mit geübten Fingern tippte die Archäologin auf das Display, um eine Karten-Übersicht auf das Kammersystem zu erhaschen. Eilig rief River das GPS-Gerät hervor, welches sie heimlich in die Taschen eines jedes Team-Mitgliedes installiert hatte, bevor Clara zu sich gekommen war. Seit dem Dilemma in der Bibliothek wollte River nicht noch einmal miterleben, wie unschuldigen Menschen ein Unglück passierte...
Mühevoll verdrängte die Archäologin die schmerzenden Erinnerung daran und lächelte zufrieden, als vier grüne, blinkende Punkte auf dem Kommunikator erschienen und sich regelmäßig gerade aus bewegten.
Sie liebte es, unerforschte Höhlen zu erkunden und gleichzeitig alles im Griff zu haben.
"Howard und Co. geht es übrigens prächtig", erklärte River Clara, welche im Schritttempo hinter ihr her stakste und mit der Taschenlampe einige der dunklen Ecken beleuchtete, "Hier, ich kann ihren Standort lokalisieren, und falls es Probleme gibt, bin ich die Erste, die davon erfährt."
River hielt den Apparat so nach hinten, dass Clara darauf blicken konnte.
Diese schien so beruhigt zu sein, wie die Achäologin es erwartet hatte. "Das ist gut. Besser als gut."
"Viel besser als gut", fügte River grinsend hinzu und wandte sich wieder ihrem Kommunikator zu, "Solange wir nicht vom Weg abkommen, läuft alles wie am Schnürchen und schon bald stehen wir vor Tut's Grabkammer."
Freudig grinste sie. "Sie können sich garnicht denken, wie viel Spaß das macht!"
"Das merkt man", beteuerte die Lehrerin, mit vorsichtigem Tonfall- welcher vergleichbar war mit einer Katze, die sich langsam, aber sicher auf neuem Gebiet vorantastete.
Sie wirkt zurückhaltend, dachte River und beschloss, das Eis zwischen ihr und der Begleiterin ihres Mannes zu brechen, damit diese sich nicht allzu beklemmt fühlte- nach der Aktion mit dem Angriff in der Coal Hill School war sie ihr das mehr als schuldig.
"Ich muss sagen, Sie verhalten sich sehr professionell für jemanden, der von einer völlig Fremden gekidnappt und in eine andere Zeit verschleppt wird", versuchte River scherzhaft, ein Gespräch zu beginnen.
Die Archäologin blickte nach hinten: Auf Claras zart geformten Lippen erschien ein kleines Schmunzeln.
"Nun ja, ich habe schon einige Erfahrung in solchen Situationen gesammelt", entgegnete sie und wirkte schon ein wenig offener, ihre großen, braunen Augen musterten River wissbegierig, "Außerdem sind Sie keine wirkliche Fremde- einmal haben wir uns bereits begegnet."
River nickte zustimmend. "Aber damals war ich nur ein Daten-Geist, der dank der Verknüpfung zu ihrem Verstand Zugang zur Realität erlangt hatte", klärte sie die Lehrerin auf und spürte plötzlich ein aufkommendes, unangenehmes Gefühl, als sie an jene Ereignisse auf Trenzalore dachte. Und an das große, schwarze Loch in ihrem Verstand, das seitdem entstanden war...
Gedankenverloren versuchte River, ihre Augen auf den Monitor ihres Kommunikators zu richten und dabei nicht über eine dieser fiesen Erhebungen im Höhlenboden zu stolpern.
"Stimmt", murmelte Clara hinter ihr.
Für ein paar Minuten herrschte eine Stille zwischen den beiden, die sich in die Länge zog. Nach ein paar Minuten wollte River noch ein wenig mehr über die Lehrerin herausfinden, um sich davon abzulenken, dass sie sich noch immer nicht an die vergangenen beiden Tage erinnern konnte.
"Wie haben Sie sich kennengelernt?"
Plötzlich mussten beide lachen, denn sie hatten der jeweils anderen gleichzeitig dieselbe Frage gestellt.
Erfreut über ihr aufgeheitertes Gemüt, versuchte sie, trotz ihres Lachens zu sprechen. "Ich glaube, wir haben einander viel zu fragen", stellte die Time Lady fest, da kam ihr auf einmal eine Idee: "Wie wäre es mit einer Art Spiel?"
Claras Augen blitzten interessiert auf. "Oh, ein Spiel? Ich mag Spiele."
"Ich auch." River gefiel ihr Gesichtsausdruck. "Sie stellen mir eine Frage und ich versuche, wahrheitsgemäß zu antworten, wenn es mir möglich ist. Danach frage ich Sie etwas und so weiter." Die Archäologin wandte sich wieder ihrem Kommunikator zu. "Aber wenn es für Sie zu verrückt erscheint, so etwas im Jahr 1922 in einer altägyptischen Grabkammer zu tun, dann..."
Spielerisch grinsend schaute sie Clara über die Schulter an- neugierig darauf, ob sie die Herausforderung annehmen würde.
Die Lehrerin legte den Kopf leicht zur Seite- die Lippen zu einem süffisanten Lächeln verzogen.
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir beide eine Menge bizarrer Dinge durchgemacht haben", meinte sie schließlich, "Immerhin kennen Sie ja den Doctor."
Und wie, dachte sich River mit einem leichten, sehnsüchtigen Gefühl ihm Herzen.
"Da erscheint mir so etwas nicht ganz so ungewöhnlich", fügte Clara dann unbeschwert hinzu und sprang mit einem Satz neben die Archäologin.
River mochte diese Einstellung- offenbar hatte sie eine Menge Energie.
"Also schön, fangen Sie an."
"Gut." Die Lehrerin wartete einen Augenblick, bevor sie begann, zu sprechen: "Es gibt viele Orte auf der Welt, um sich mit falschem Namen vor einer galaktischen, oberbösen Vereinigung zu verstecken- Warum haben Sie sich für die Coal Hill School entschieden?"
Erleichtert darüber, dass sie die Archäologin nicht gleich wie verrückt über ihren vermeintlichen Tod ausfragte, erzählte River mit wohl gewählten Worten: "Um ehrlich zu sein, war es reiner Zufall- Einige vertraute Personen meines Gatten hatten dort vor vielen Jahren gearbeitet. Ich besaß genügend Zeit, um mir einen Decknamen zuzulegen, plus einen neuen Job. Dafür musste ich mir die Kleidung aus einer Reinigung holen, weil ich aussah, als hätte mich jemand in einen Mixer geworfen..."
Mit Schaudern dachte sie an das zerflederte, beige Kleid und die Jacke mit den weißen Nadelstreifen zurück, die wie Fetzen an ihrem Körper gehangen hatten.
Clara hingegen, entfuhr ein leises Kichern. "Also ich finde, die Klamotten standen Ihnen sehr gut", meinte sie.
"Vielen Dank", gab River zurück und dachte an ihr geliehenes (genau genommen, gestohlenes) Outfit, welches sie aus Zweck und Not tragen musste. "Aber für meinen Geschmack war es etwas zu dezent- und die Farbe Violett passt garnicht zu mir."
River hielt ihren Kommunikator etwas höher in die Luft, sodass sie den Empfang in den völlig von jeglicher Technologie befreiten Höhlen nicht verlor. "Jetzt bin ich an der Reihe", sagte sie währenddessen und überlegte einen Moment, dann fragte sie: "Warum sahen Sie am Snack-Automaten so traurig aus?"
Clara antwortete nicht, weshalb ihr die Archäologin einen besorgten Blick zuwandte. Der muntere Gesichtsausdruck der Lehrerin verschwand, stattdessen wurden ihre Augen ganz glasig und starrten ins Leere.
"War das so offensichtlich?", fragte sie gedrückt, jedes Wort brachte sie mit abweisender Trauer hervor.
Betroffen über ihre Reaktion, biss River auf ihre Unterlippe. Vielleicht hätte sie sie nicht darauf ansprechen sollen-
"Ich habe vor einigen Monaten jemand Besonderen verloren." Clara schaute ihr nun wieder ins Gesicht, sie blinzelte schnell und lächelte zwanghaft.
"Oh." Das erklärte natürlich ihr Verhalten. "Verzeihung, ich konnte ja nicht ahnen, das-"
"Nein nein nein, ist schon in Ordnung", beruhigte die Lehrerin sie hastig und setzte langsamer nach: "Ich... bin noch dabei, es zu verarbeiten."
Sie möchte es verdrängen, dachte River und empfand tiefes Mitleid für sie, Das kann ich ihr absolut nicht verübeln.
"Geben Sie sich Zeit", riet sie Clara nur mit Erfahrung in ihrer Stimme, "Sie werden sehen, solange Sie sich nicht unterkriegen lassen, werden Sie es überstehen."
Die Brünette nickte zum Dank. "Das werde ich bestimmt."
Allerdings lag River noch eine Sache auf dem Herzen.
"Wenn ich fragen darf", wagte sie es vorsichtig, "Wer war dieser Jemand?"
"Zu spät", entgegnete Clara, ihre Lippen verzogen sich zu einem schnippischen Grinsen, "Ich bin schon dran."
Die Archäologin lächelte. Ihr Doctor hatte sich eine schlagfertige Frau zur Begleiterin gemacht.
"Wieso dachte der Doctor, Sie seien nicht mehr lebendig?", fragte Clara nun interessiert, allerdings mit einer Vorsicht, die River guthieß.
Doch sie wusste, dass sie dieser Frage nicht ausweichen konnte- obwohl sie nur in Bruchteilen antworten konnte.
Um sich nicht wieder von Unwissenheiten überwältigen zu lassen, tippte die Archäologin emsig mit ihren Daumen auf ihren Kommunikator herum.
"Es ist eine längere Geschichte", erklärte sie abwesend, "Sie erinnern sich an die Bibliothek, von denen ich Ihnen auf Trenzalore erzählt habe? An diesen Ort kann ich mich zuletzt erinnern. Ich weiß nicht, was nach meinem Abschied vom Doctor oder nach Trenzalore passiert ist, aber es ist mir nicht so vorgekommen, als sei ich archiviert worden. Es hatte sich so angefühlt, als wäre ich für eine lange Zeit im Koma gelegen und hätte geschlafen, tief und intensiv."
Der Versuch, gleichgültig zu klingen, ging gründlich schief- bestimmt musste sie jedes der letzten Worte so gefühlsbetont ausgedrückt haben, dass Clara ahnen konnte, wie sehr sie diese Sache bedrücken musste.
Genau das wollte River stets verhindern: Dass ihre verletzliche Seite irgendwann ans Tageslicht kam.
Glücklicherweise hakte Clara nicht weiter nach, sondern nickte nur verständnisvoll. "Gut... Sie müssen nicht darüber reden, wenn Sie nicht wollen."
Dankbar lächelte die Archäologin sie an. "Das ist sehr freundlich von Ihnen", meinte sie höflich, "Aber es ist alles, an was ich mich erinnern kann. Ehrlich."
Nun war River an der Reihe und konnte ihrer Neugierde freien Lauf lassen. "Wann sind Sie dem Doctor zum ersten Mal begegnet?"
"Puh", machte Clara und kratzte sich dabei nachdenklich am Kopf, "Also das war vor etwa zwei Jahren- ich hatte mich gerade um die Kinder eines Freundes gekümmert, als ich ein Problem mit dem WLAN bekam. Eine Frau hatte mir die Nummer von jemanden gegeben, der mir dabei helfen könnte."
Während die Lehrerin erzählte, wurde die Höhle von Schritt zu Schritt wieder etwas ebener, sodass der Weg leichter zu beschreiten war.
"Ich habe also bei der Nummer angerufen", fuhr Clara fort, "Und plötzlich kingelte es an der Tür."
"Und dann kam der Doctor in Ihr Leben", vollendete River schmunzelnd und konnte sich nur allzu gut vorstellen, was für einen Auftritt sich ihr Ehemann geleistet hatte.
"Exakt", stimmte Clara ihr zu und lächelte bei der Erinnerung, "Sie hätten Ihn nur mal sehen sollen- in Kutte gekleidet, und mit zerzausten Haaren!"
"Wie ein Mönch nach einem Junggesellen-Abschied", meinte River amüsiert und malte sich die Szene im Kopf aus. Sie fühlte, wie ihr Herz bei dem Gedanken an den Doctor begann, schneller zu schlagen.
Clara musste bei der Bemerkung herzhaft lachen. "Genau! Jedenfalls wusste er sofort, wie ich heiße und ich hatte ihn erst für einen Irren gehalten. Doch später sind noch ein paar weitaus merkwürdigere Dinge geschehen..."

⏳} TIMELESS ADVENTURES - The Chronicles Of The 11th Doctor {⌛Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt