Gleich hab ich's überstanden. Die Minuten ziehen sich wie Sirup während ich meinem Lehrer zuhöre, wie er immer noch über Benimmregeln schwadroniert. Das Wochenende steht bevor. Zwei Tage an denen ich keinen von diesen Hinterwäldlern sehen muss.
Noch 5 Minuten.
300 Sekunden.
299
298
297
Der Schrei geht mir durch Mark und Bein.
Nein. Nicht heute. Bitte, bitte nicht!
Noch ein Schrei. Ich kenne diese Stimme. Kenne sie so gut.
Bevor mich mein Lehrer aufhalten kann, bin ich schon an der Tür und renne los. Der Flur kommt mir länger vor als sonst. Er zieht sich in die Länge, während Wände mir immer näher kommen und mir den Atem rauben. Der Weg zum Schulhof scheint unüberwindbar. Ich merke kaum, wie ich die Tür aufstoße. Der Hof ist nur noch eine braune matschige Masse, die vor langer Zeit mal eine Wiese war. Die ehemals weißen, jetzt trist grauen, Schulmauern umgeben ihn wie ein Gefängnis. Rauben jedem das Gefühl von Freiheit und Individualität. Die vor Angst geschwängerte Luft erdrückt mich.
Draußen stehen die Klassenkammeraden meiner Schwester und sehen zu. Sie sehen immer zu. Niemand unternimmt je etwas. Wie Salzsäulen stehen sie und stieren.
In der Mitte des schlammigen Boden, gleich neben dem einzigen kahlen Baum im Hof, kniet sie. Lavinia. Meine kleine Schwester. Über ihr steht unser Hausmeister, aber sein eigentlicher Job hier, ist der als Folterknecht. Die Peitsche in der erhobenen Hand.
Wie in Zeitlupe geht das Folterwerkzeug nieder und gibt einen Übelkeit erregenden Knall von sich. Der folgende Schrei gellt in meinen Ohren.
Lavinia. Meine kleine, süße, zerbrechliche Lavinia.
Blut läuft in kleinen roten Bächen über die weiße Haut ihres Rückens. Das blonde Haar klebt ihr am tränenüberströmten Gesicht.
„Liv!"
Ich bin bei ihr bevor mich jemand aufhalten kann. Es ist nicht so, als hätte es einer versucht... Ich stelle mich zwischen sie und Rae Vanmorten und nehme ihr Gesicht in die Hände.
„Alles wird gut, hörst du? Ich bin da. Er wird dir nichts mehr antun. Sieh mich an!"
Mit vor Schmerz glasigen goldenen Augen blickt sie mich an.
„Es ist vorbei", flüsterte ich.
Hinter mir höre ich ein grausames Lachen. Vanmorten kannte noch nie Erbarmen.
Ich stehe auf, spanne die Rückenmuskeln und stelle mich dem Scheusal.
Schwarze, fettige Haare und verfaulte Zähne lassen ihn aussehen wie eine riesige Kanalratte.
Vielleicht hätte ich Angst haben sollen - oder wenigstens Respekt. Aber Hass lässt einen bekanntlich unvorsichtig werden.
Er lacht immer noch. Amüsiert. Vollkommen irre. Er wirkt kein bisschen überrascht.
Krampfhaft halte ich die Tränen der Wut zurück. Schlucke gegen die Übelkeit an.
„Zeig keine Schwäche. Das lieben sie. Atme durch und handle wie es dein Vater getan hätte", höre ich die Stimme meiner Mutter.
Ein tiefer Atemzug. Die Luft riecht süßlich und metallisch zugleich - nach Blut.
„Was hat sie getan?" Ich klinge eisig. Zeig keine Schwäche!
„Sie hat sich nicht angemessen verhalten. Diese Strafe ist gut für sie. Wenn deine Mutter euch nicht erzieht, müssen wir das übernehmen", intoniert Vanmorten. Diesen Text kann ich mittlerweile auswendig.

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Die letzte Erbin
FantasySie dachte sie sei normal. Zumindest hoffte sie es. Tja, hätte Roxan ein Wort mitzureden gehabt, wäre sie es auch. Aber sie ist alles andere als normal - und das fürchten die Sklaventreiber. Rox ist die letzte Erbin, die Erbin der längst ausgestorbe...