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Stephen

Ich sah besorgt zu Tris. Ihre Hände hatte sie immer noch in der Position, um die Teller festzuhalten. Diese waren jedoch vor wenigen Sekunden klirrend auf den Boden aufgekommen und zersprungen.

Wie erstarrt hatte sich ihr Blick auf den Mann im Türrahmen geheftet.
Tränen machten ihre Augen glasig.
Sie zitterte, schien um Beherrschung zu ringen.
Den Blick still abwendend kniete sie sich hin, um mit zitternden Fingern die Scherben der Teller aufzusammeln.

Die Scherben färbten sich rot, als sie sich an den scharfen kannten schnitt, ohne zusammen zu zucken. Tränen vermischten sich mit dem Blut.
Wie in Trance räumte sie weiter die Scherben auf, ohne auf das Blut zu achten.

Ich stand auf und ging zu ihr. Als ich mich neben sie hockte und eine Hand auf ihren Rücken legte spürte ich, wie schnell ihr Herz schlug und wie sehr sie zitterte.

"Hey, lass gut sein." sagte ich mit leiser, sanfter Stimme und nahm ihr die Scherben aus ihren blutigen Fingern. Wir standen wieder auf. "Komm mit, wir machen das." ich wollte sie in das Bad zu uns oben bringen, jedoch starrte sie wieder den Mann an, der nach wie vor ruhig da stand und lächelte.

Ebenso ihr Vater starrte ihn an. Tris' Augen jedoch sprühten nichts anderes als Kälte aus.

Sie lief um den langen Tisch herum und blieb vor ihm stehen.

"Was machst du hier?" fragte sie monoton, sah zu ihm herauf. "Dir auch frohe Weihnachten, Kleines." ich verspannte mich unweigerlich.

Wer nannte sie sonst noch außer mir so? Stimmt! Niemand! Nur ich hatte Recht darauf mein Mädchen so zu nennen. Der nächste kam an und nannte sie Babe oder Baby oder was?!

"Nenn' mich nicht so! Du hast da kein Recht drauf! Nicht mehr!" zischte sie.
Ich sagte es ja.

"Spricht man so mit seinem großen Bruder?" Jetzt wurde mir einiges klar.
Er war der große Bruder von Tris.
Er hatte sie erst beschuldigt nicht rechtzeitig gehandelt zu haben, als ihre gemeinsame Mutter starb und verschwand dann einfach.

Das war vor vier Jahren. Und nun stand er hier vor uns. Lächelnd, als wäre nicht gewesen, als wäre er von seinem fucking Urlaub wieder zurück. Für was hielt er sich?!

Unweigerlich verspürte ich Wut und Lust auf etwas einzuschlagen... Oder doch gleich ihn umzubringen.

Meine Finger fingen an zu kribbeln.

"Und du glaubst, dass du es anders verdient hast?! Nach dem du vier beschissene Jahre uns alleine gelassen hast?! Dich einfach verpisst hast?! Und du vorher deiner kleinen Schwester auch noch an dem Tod unserer Mutter die Schuld gegeben hast?! Einer 13-jährigen, die es sich dadurch nicht anders erklärte, dass alles ihre Schuld war?! Tickst du noch richtig?!
Verdammt ich sollte Stephen darum bitten, dich mit nem Tritt in deinen Scheiß-Arsch hochkant aus dem fucking Haus zu befördern." Sie schrie. Sie schrie ihn aus vollem Halse an, was mir einen Stich ins Herz versetzte. Sie schrie nicht nur aus Wut, sondern auch um ihre unendliche Trauer und das Bedürfnis hier und jetzt zusammen zu brechen und zu heulen zu überdecken. Ich kannte das Gefühl.

Ich würde es machen. Liebend gerne.

Sein Lächeln verblasste. Sein Blick richtete sich kurz auf mich. Ich starrte ihn kalt an.

Dann wanderte sein Blick wieder zurück zu Tris.

"Es tut mir leid. Wenn du mir eine Chance gibst, erkläre ich dir alles. Nicht heute. Heute ist Weihnachten." Seine Stimme klang vorsichtig.

Ich stellte mich neben Tris, sah zu ihr. Ihre Fassade bröckelte nur so vor sich hin. Sie nickte nur.
"Willst du dich setzen? Gegessen haben wir schon aber... Naja." Ihre Fassung zurück klang ihre Stimme wieder völlig kalt.

So hatte ihre Stimme anfangs mir gegenüber geklungen. Ich musste leicht lächeln.

"Wenn es euch nicht zuviel wird, gerne." Er sah jedem in diesem Raum an. Jeder nickte. Jeder außer ich. Leider hatte ich nichts zu sagen

Ihr Vater sprang auf und zog seinen Sohn in eine Umarmung. Das hatte er nicht verdient, das wusste sicherlich auch Mr. Foxworth.

"Wollen wir rüber ins Wohnzimmer gehen? Es gibt Geschenke.

Jeder ging rüber ins Wohnzimmer, außer Esmeralda. Sie lief zu den Scherben, die immer noch auf dem Boden lagen.

"Kleines deine Hand. Lass mich sie verbinden." sagte ich zu ihr, so damit es niemand mitbekam.

Dachte ich.

Ihr Bruder drehte sich prüfend zu uns um und schien auf Anhieb zu verstehen, was das zu bedeuten hatte, dass ich sie so nannte, die Art wie ich sie an sah und ebenso wie sie mich ansah und lächelnd nickte.

"Da kannst du mir doch auch gleich dein Zimmer zeigen. Ich Wette du hast dein eigenes Bad." lächelte ihr Bruder.

Sie nickte zögernd und lief mit mir voran die Treppe hoch.

Ich öffnete die Tür auf. "Hier oben hast du schön deine Ruhe, was, Kleines? Welcher Raum ist was?"

Er versuchte ganz klar ein Gespräch aufzubauen.

Sie zeigte auf eine Tür. "Da ist unser begehbarer Kleiderschrank." Sie deutete auf die nächste und auch auf die anderen. "Hinter der ist das Bad, da ist mein Zimmer und da ist... Ist sein Zimmer." sie deutete auch mich.

Wir gingen ins Bad.

Sie setzte sich auf die Toilette während ich das Verbandszeug heraus holte und ihr Bruder, dessen Namen ich nach wie vor nicht kannte, sich gegen den Türrahmen lehnte.

Ich sah in ihre Augen. Sie verstand und nickte. Ihr ging es nicht anders.

Das ganze erinnerte daran, wie ich sie das erste Mal verband. Nach dem ich sie in ihrem Zimmer mit aufgeschnittenen Armen gefunden hatte.

Keine schöne Erinnerung, wie schlecht es ihr ging. Ich hoffte, dass ich irgendwo ein Grund sein könnte, dass es ihr vielleicht besser ging.

Und es ging ihr besser. Ich kannte sie besser als jeder. Ich wusste was sie dachte, wie sie ticket. Was ich trotz allem aber nicht wusste war, ob sie sich nach wie vor selbst hasste, sich innerlich fertig machte oder ob sie anfing sich selbst zu akzeptieren.

Sie brauchte keinen Verband. Ich säuberte lediglich ihre Hände vom Blut und klebte auf die Schnitte Pflaster.
Ich wusste nicht warum, aber ich musste an unser letztes Training denken und wie sehr wir es vernachlässigt hatten. Ich schmunzelte.

"Was ist?" fragte sie leicht lächelnd und legte ihre rechte Hand an meine Wange. Ich schüttelte den Kopf. "Wir lassen dein Training ganz schön schleifen." sie lachte auf und nickte.

Ihr Bruder beobachtete das ganze, was ihr jedoch egal zu sein schien, denn sie beugte sich vor und küsste mich sanft.

"Ich hoffe du wirst sie glücklich machen, sonst kannst du was erleben, Stephen." das Schmunzeln in dem Gesicht ihres Bruders nahm den Worten die Schärfe.
"Wobei ich wahrscheinlich gegen den besten Straßenkämpfer Iowas keine Chance hätte, was?" lachte er und kam auch mich zu.

"Zwar bin ich wahrscheinlich nicht unbedingt angesehen in der Familie aber ich sag es trotzdem. Willkommen in der Familie, man." Im nächsten Moment befand ich mich nach einem Handschlag in einer brüderlichen Umarmung wieder.

"Mein Name ist übrigens Damian, falls du es noch nicht weißt."

Damit hatten wir das dann auch geklärt.

Sociopathic; Scared of loveWo Geschichten leben. Entdecke jetzt