Kapitel 56

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"Oxer!" konzentriert fokusierte London den mächtigen Sprung vor sich. Seine Stute galoppierte zügig und ohne mit der Wimper zu zucken, um mit einem riesigen Satz über das Hindernis zu segeln. "Brav!" lobte mein Freund und tätschelte Luftwaffe, die heute ihr erstes internationales Turnier mit ihm bestreiten würde, den braunen Hals. "Nicht schlecht!" lobte auch einer der anderen Reiter und bedeutete mit erhobenem Daumen, wie sehr ihm die braune Stute gefiel. London lächelte glücklich. "Valerie, kannst du nochmal höher ziehen?" rief mein Freund zu mir herüber und erinnerte mich daran, dass ich mich nicht einfach auf den Abreiteplatz der Springreiter verirrt hatte, sondern auch wirklich gebraucht wurde. Misstrauisch blickte ich das Hindernis an, dass für meinen Geschmack schon viel zu hoch aufgebaut war. "Schätzchen, mal mal hinne, auch andere wollen noch über den Oxer!" pflaumte mich nun Logan an, der auf einem kleinen Rappen saß, der die ganze Zeit erschreckt mit den Augen rollte. "Natürlich eure Majestät!" pampte ich zurück und hängte die Plastikauflage ein Loch weiter oben ein. "Herzchen, normalerweise erhöht man mindestens um zwei Löcher, sonst hat deine wundervolle Arbeit gar keinen Sinn!" ätzte Logan wieder und warf mir einen mitleidigen Blick zu. "Dann machs doch selbst!" fauchte ich und deutete anklagend auf den Oxer. "Leute, alles wird gut. Ich mach das schon!" schaltete sich ein fremdes Mädchen ein und erhöhte mühelos alle Stangen des Hindernisses. Mit einem sarkastischen Lächeln bedankte sich Logan und ritt von dannen, nicht um davor noch zu murmeln: "Hätte sich mein Bruder wenigstens eine Springreiterin oder irgendeine kompetente Freundin gesucht!".

Vor Wut wurde mein Gesicht schneeweiß und ich verließ schnellen Schrittes den Abreitplatz, um mich neben Charly, Sam und Alison niederzulassen, die sich lässig in die Sessel gesetzt hatten, die dekorativ um den Abreiteplatz herum verteilt worden waren. Als Charly meinen wütenden Gesichtsausdruck sah, seufzte sie leise. "Was hat mein missratener Freund denn jetzt schon wieder nettes von sich gegeben?" erkundigte sie sich und schob sich ihre verspiegelte Sonnenbrille mit einer gekonnten Geste in die Haare. "Alle Springreiter sind Arschlöcher!" murrte ich und ließ mich in einen der Sessel plumpsen, um im nächsten Moment meine Beine von mir zu strecken. "So schlimm gleich? Nun gut, nachdem er mir auch Nettigkeiten um die Ohren geworfen hat..." sie seufzte wieder theatralisch. "Leute, jetzt lasst uns nicht von euren Freunden reden, sondern lieber davon, was wir mit Alice machen!" Sam hatte sich nervös im Sessel vorgelehnt und kaute aufgeregt auf ihrer Unterlippe herum. "Was sollen wir denn da groß machen... Die Jury hat entschieden, dass sie trotzdem im Finale dabei sein wird, da sie dich und mich trotzdem besiegt hat..." grummelte ich und dachte an Georgies klare Ansprache nach der Einlaufprüfung vor zwei Tagen. "Da Alice solch eine gute Leistung erbracht hat, und nebenbei noch die beiden Finalistinnen Samantha und Valerie geschlagen hat, wird sie die Wildcard erhalten und somit in der Kür am Sonntag und im Finale eine Woche später teilnehmen." "Das ist wirklich unter aller Kanone!" schaltete sich nun auch Alison ein und zeigte uns den Vogel. "Wie kann man eine, die des Dopings überführt wurde, an einem Finale teilnehmen lassen? Wollen die uns bloßstellen oder was?" regte sie sich auf und auf ihrem Hals erschienen rote Flecken, so sehr hatte sie sich in Rage geredet. "Leute, ich will euch ungern in euren Schimpftiraden stören, aber Valeries Herzbube ist gleich dran!" unterbrach Charly die Diskussion und wuchtete sich aus ihrem Sessel, um sich auf den Weg ins Stadion zu machen.

"Der Sieg in der heutigen Springprüfung der Klasse S* für 7- 9 jährige Pferde geht an die 9 jährige Stute Luftwaffe und London Fischer, herzlichen Glückwunsch!" tosender Applaus erscholl und ich kreischte ganz laut mit. London hatte gewonnen. Mit einem strahlenden Lächeln und funkelnden Augen ritt mein Freund seine wohlverdiente Ehrenrunde und ließ sich feiern. Sein Bruder ritt mit angesäuerter Miene hinterher, er war in dieser Prüfung sogar zwei Sekunden langsamer gewesen und musste sich nun mit der silbernen Schleife begnügen. "London, du warst fantastisch!" rief ich ihm atemlos zu, als er wieder auf dem Abreiteplatz eintraf und der verschwitzten Luftwaffe den Hals klopfte. "Danke, aber ich hatte ja auch einen guten Glücksbringer!" er zwinkerte mir schelmisch zu und hauchte mir einen kurzen Kuss auf die Lippen, bevor er abstieg, meine Hand nahm und mich und seine Stute so langsam in Richtung der Stallungen führte.

"Valerie! Herrje, ich weiß gar nicht wo dir in letzter Zeit der Kopf steht. Seit Alice wieder in der Show ist, benimmst du dich wie ein Häufchen Elend!" schimpfte Georgie mich wenige Stunden später, als ich Olympio satteln musste, um mich für die kommende Kür, das Highlight der Bikenstein Classics, fertig zu machen. "Ja, Mensch, Georg, da stellst sich doch glatt die Frage warum du diese Mistkuh wieder in die Show aufgenommen hast!" gab ich ärgerlich zurück und streifte meinem Hengst gleichzeitig das Genickstück der Kandare über die Ohren. "Mensch Valerie! Die Zuschauer wollen Action sehen, die wollen wahre Emotionen sehen! Sam, Alison und du, ihr vertragt euch einfach zu gut! Da brauchen wir doch nochmal jemanden, der richtig polarisiert..." versuchte mein Trainer sich zu Rechtfertigen, doch ich kann in seinen Augen sehen, dass es ihm mit dieser Entscheidung auch nicht gut dabei ging. "Ist jetzt sowieso egal. In der Kür wirst du gewinnen, da bin ich mir ganz sicher!" versuchte er mir Mut zu machen und tätschelte Olympio den kastanienfarbenen Hals.

"Und nun begrüßen Sie mit mir in der Bahn die Kopfnummer 934 Fischer's Olympio und Valerie Winterhagen für Deutschland, Germany." Das war mein Satz. Mit einem letzten Aufmunternden Tätscheln strich ich über das Fell meines Hengstes. Noch einmal atmete ich tief durch. Spürte die schwungvollen Bewegungen unter mir. Hörte meinen Herzschlag. Das entspannte Schnauben meines Pferdes. Die angespannte Stille in der Arena. Das helle Leuten der Glocke. "Angriff!" flüsterte ich und ließ meinen Hengst angaloppieren.

Die fröhlichen ersten Takte der Gummibärenbande begleiten mich auf dem Weg in das Dressurviereck und hielten nur für einen kurzen Moment inne, in dem ich grüßen konnte. Dann wurden sie von Pippi Langstrumpf abgelöst, die meine Zweierwechsel auf der Mittellinie untermalte. So, der Beginn ist schon mal geschafft. dachte ich, als ich auf die Diagonale abwendete um im starken Galopp Olympios große Stärke zu demonstrieren. Auch die Pirouette gelang super, dann erfolgte auch schon der Übergang zum versammelten Trab, der mit der Musik von Wickie untermalt war. Plötzlich fiel die ganze Anspannung von mir, die die letzten drei Tage, seit Alice Ankunft von mir Besitz ergriffen hatte, und ich konnte wieder frei atmen. Ich hörte die fröhliche Musik aus meiner Kindheit und von einem Moment auf den anderen fühlte es sich nicht mehr so an, als würde ich auf einem der gefragtesten Jugendturniere Deutschlands eine Kür reiten, die über Weiterkommen oder Versagen, Sieg oder Niederlage, Krone oder Nichts entscheiden würde. Stattdessen sah ich mich selbst auf meinem ersten Pony Nepomuk auf meinem ersten Turnier reiten. Zu diesem Zeitpunkt war ich gerade erst sechs Jahre alt geworden und war stolz mit Nepomuk in einem Reiterwettbewerb gestartet. Am Ende bedeutete das für uns den Sieg. Heute wird das auch so sein! flüsterte eine sanfte Stimme in meinem Kopf und schon war die Illusion wieder verschwunden und ich ritt zu den Klängen von Tabaluga die letzte Mittellinie im Mitteltrab hinunter. Als Olympio lehrbuchartig anhielt und ich gegrüßt hatte, schlang ich ergriffen die Arme um seinen Hals. Er war ein weiters Mal mit mir getanzt, er hatte alles gegeben. Und nun lag alles in der Hand der Richter. "Das waren Valerie Winterhagen und Fischers Olympio! Wir warten gerade noch auf das vorläufige Ergebnis der beiden!" tönte es blechern aus den Lautsprechern und ich hielt aufgeregt die Luft an. Würde es jetzt endlich wieder zum Sieg reichen? Oder würde Alice die goldene Schleife an sich reißen?

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